Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
Vom Netzwerk:
andere Tür entscheiden oder so tun können, als habe er sich verirrt, oder er hätte im Ratssaal bleiben und den Blicken trotzen können. Dann hätte er in ein paar Stunden nach Hause gehen und einen angenehm ereignislosen Abend damit zubringen können, sich bei Ophelia darüber zu beklagen, was er alles erdulden musste. Denn Mr.   Jelliby wollte auf keinen Fall wissen, wer diese Kinder ermordete. Schließlich waren es Mischlinge. Sie waren weit weg, er war ihnen nie begegnet, und er hatte genug eigene Sorgen. Aber die Unterhaltung ging weiter, und Mr.   Jelliby sah sich gezwungen, jedes Wort mit anzuhören.
    »Ich möchte nicht Hunderte davon«, sagte Mr.   Lickerish sehr wütend und sehr leise. »Ich möchte nur einen. Einen einzigen, der seinen Zweck erfüllt. Allmählich bin ich dein fortwährendes Versagen leid. Das geht jetzt schon viel zu lange, hast du verstanden? Es erregt zu viel Aufmerksamkeit, zu viele Leute wissen davon. Letzte Woche hat sich der Staatsrat versammelt, um über ebendiese Operation zu sprechen.« Mit angespannter Miene wandte er sich wieder dem Fenster zu. »Würdest du ein wenig darauf achten, was um dich herum vor sich geht, hättest du mitbekommen, dass die Mischlinge, die versagt haben, gefunden worden sind. Wie ich befürchtet hatte. Der Fluss behält seine Toten nicht lange. Aber dass darüber ein solches Aufhebens gemacht wird! Es waren doch nur neun. Neun wehleidige, wertlose Seltsame, und das ganze Land verfällt in Hysterie. Das muss aufhören. Du musst einen Mischling finden, der seinen Zweck erfüllt, der unseren Erwartungen gerecht wird. Ich will nichts mehr von ›fast‹ hören. Von ›beinahe‹.« Mr.   Lickerish stellte sich auf die Spitzen seiner polierten Schuhe und flüsterte in die Haare am Hinterkopf der Dame hinein, und zwar so leise, dass Jelliby ihn kaum verstand. »Ich möchte einen, der alles ist, Jack Box. Bring mir erst wieder einen, wenn du dir sicher bist.«
    Erneut wich die Dame vor Mr.   Lickerish zurück. »Das letzte Mal war ich mir sicher«, sagte die Stimme. »Ganz bestimmt. Und trotzdem… Nein. Ich werde keinen Fehler mehr machen, Sathir. Dieses Mal werde ich mich doppelt vergewissern. Bis nicht mehr der Schatten eines Zweifels besteht.«
    Mr.   Jellibys Bein zuckte. Es war nur das ganz leichte Zucken eines Muskels oder einer Sehne, aber es genügte: Die gepolsterte Bank knarrte kaum merklich. Mr.   Lickerish fuhr herum.
    »Hast du das gehört?«, flüsterte er, und sein Blick huschte durchs Zimmer.
    Mr.   Jelliby erbleichte.
    »Ja«, sagte die Stimme. »Ich habe es gehört.«
    Mr.   Lickerish trat einen Schritt auf das Kabinett zu, wobei er die Lippen so fest aufeinanderpresste, dass jegliches Blut aus ihnen wich. Er hob die Hand, und seine langen Finger streckten sich nach der Kabinetttür aus. Er war zu klein, um durch die Glasscheibe schauen zu können, aber das spielte keine Rolle. Noch ein Schritt, und er würde die Tür öffnen. Er würde Mr.   Jelliby im Dunkeln kauern sehen, und dann…
    Ein Krampf glitt über das Gesicht der Dame, ein Beben direkt unter ihrer Haut, und plötzlich war ihre Miene nicht länger ausdruckslos. Ihr Blick richtete sich durch das Glas hindurch auf Mr.   Jelliby. Das Leid in ihren Augen war nicht zu übersehen. Dann öffnete sie ihre roten Lippen und sprach mit einer sahnigweichen Stimme und einem ganz leichten Akzent. »Das ist nur das Holz, Euer Ehren. Wenn es tagsüber warm wird, dehnt es sich aus.«
    Ihre Stimme verstummte, doch ihre Augen starrten Mr.   Jelliby weiterhin an, und auch ihr Mund bewegte sich noch einmal. Ihre Lippen bildeten drei Wörter. Drei lautlose Wörter, die kristallklar in seinem Kopf widerhallten.
    Helfen Sie mir!

SIEBENTES KAPITEL

    Ist er böse?
    »Mama, hast du Münzen hinter den Augen?« Hettie hob nicht einmal den Blick, als sie das fragte. Sie hielt einen angeschlagenen Becher mit Brühe in den knochendürren Fingern und starrte hinein.
    Mutter blieb ihr die Antwort schuldig. Sie stach mit einer langen Nadel auf eine Wollsocke ein und war mit den Gedanken weit, weit weg.
    »Hast du Münzen hinter den Augen?«, fragte Hettie noch einmal, lauter jetzt.
    Bartholomew schaute von seiner Brühe auf. Normalerweise hätte er seine Schwester ausgelacht. Hätte sie unter dem Tisch gezwickt und ihre Frage mit hoher, alberner Stimme wiederholt, bis sie gekichert hätte. Aber dazu war er nicht mehr in der Lage. Er fühlte sich alt, und er hatte Angst, und Lachen und Zwicken

Weitere Kostenlose Bücher