Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
Vom Netzwerk:
für Tinte und Briefumschläge an den Wänden. Im Inneren befanden sich auch eine kleine gepolsterte Bank und eine Kerosinlampe. Eine gewölbte Glasscheibe war in die Tür eingearbeitet. Mr.   Jelliby schlüpfte unbeholfen hinein, und als er so weit hinten kauerte, wie es ihm möglich war, schloss er sich ein.
    Nicht einen Augenblick zu früh! Die Tür zum Korridor ging leise auf. Mr.   Jelliby hielt den Atem an. Und John Wednesday Lickerish betrat das Zimmer.
    Mr.   Jelliby benötigte einen Moment, um das ganze Ausmaß seines Pechs zu begreifen. Gewiss träumte er! Möglicherweise trat irgendwo im Palast Gas aus, und er hatte die Dämpfe eingeatmet, oder er hatte sich eine Bleivergiftung zugezogen, die sich erst jetzt mit Halluzinationen und Kopfschmerzen bemerkbar machte.
    Zum Henker damit! Natürlich war es der Herr Justizminister. Und natürlich suchte sich der knollenköpfige Nichtsnutz ausgerechnet dieses Zimmer aus, als gäbe es in Westminster nicht noch unzählige andere. Sollte er Mr.   Jelliby jetzt entdecken, würde das mehr als nur eine Demütigung bedeuten. Die Polizei würde gegen ihn ermitteln, und er würde aus seinem Club und aus sämtlichen seiner Lieblingssalons verbannt und vielleicht sogar verhaftet werden! Die Tatsache, dass er sich, nachdem eben erst Gerüchte aufgekommen waren, er sei ein Spion, in einem Privatgemach des Parlaments in einem Möbelstück versteckte, ließ sich wohl kaum zu seinen Gunsten auslegen. Seine Gegner konnten ihn mit ein paar wohlplatzierten Worten spielend leicht aus dem Parlament werfen lassen. Mr.   Jelliby hatte nicht übel Lust, aus dem Kabinett hinauszuspringen und das Feenwesen anzuschreien, es würde ihm nichts als Unglück bringen und er wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aber dazu war er einfach nicht in der Lage. So blieb er wie angewurzelt auf der Bank sitzen und schaute durch die Glasscheibe hinaus.
    Der Justizminister wiederum blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah sich um. Dann trat er an ein Fenster, das auf die Themse hinausging, öffnete es und streckte den Arm hinaus. In seiner Handfläche bewegte sich etwas – Metallgefieder und Räderwerk. Ein mechanischer Sperling erhob sich in die Luft und flatterte für einen Moment über seiner Hand. Mr.   Jelliby sah, dass an einem Messingbein des Vogels eine Messingkapsel glitzerte. Dann schoss der Sperling über den Fluss davon und verlor sich in den Rauchkringeln, die von den Dächern der Stadt aufstiegen.
    Mr.   Jelliby atmete ganz leise durch. Eine Kapsel. In der sich eine Botschaft befand. Der Vogel war eine »Brieftaube«, wie seine Großeltern sie verwendet hatten, als es noch keine Sprechapparate und Telegraphen gab. Allerdings hatten die Vögel seiner Großeltern Herzen aus Fleisch und Blut und ein weiches Gefieder gehabt. Eine Apparatur wie die, die das Feenwesen gerade auf die Reise geschickt hatte, war nicht billig. In Mr.   Jellibys Haushalt gab es so etwas nicht. Ophelia hielt nichts von dergleichen, schließlich war sie eine feinsinnige Dame, die mehr an Magie interessiert war denn an Mechanik. Aber wenn er spazieren ging, hatte er so etwas schon oft gesehen: Automaten, die wie Hunde aussahen, wie Krähen und Spinnen und sogar wie Menschen, die mit Knopfaugen aus den Schaufenstern der vornehmen Mechalchimisten an der Jermyn Street hinausstarrten. Automatische Pferde waren der letzte Schrei, dabei waren sie hässlich und laut, aus ihren Gelenken schoss Dampf, und sie glichen eher Nashörnern als Pferden, aber der König von Frankreich besaß einen ganzen Stall voll, was sich die Königin von England natürlich nicht bieten lassen konnte, und so hatte sie sich ein ganzes Feld voll angeschafft, und bald besaß jeder Herzog und jeder unbedeutende Adelige mindestens eine von Automaten gezogene Kutsche.
    Mr.   Lickerish schloss das Fenster und wandte sich zum Gehen, wobei er sich abermals argwöhnisch in dem Zimmer umsah. Er hatte die Tür zum Korridor fast erreicht, als sie ein weiteres Mal aufflog und ihm fast einige seiner scharfen Feenzähne ausgeschlagen hätte.
    Aus seinem Versteck in dem Aktenkabinett konnte Mr.   Jelliby nicht sehen, wer da gekommen war, aber ihm entging nicht, dass die Miene des Justizministers ausgesprochen frostig wurde und seine Hand nach dem Futter seines Jacketts griff. Offenbar kannte er den Neuankömmling. Und war nur wenig erfreut, ihn zu sehen.
    »Du stinkende Kerze«, zischte er. »Was hast du hier verloren? Melusine, wir dürfen auf keinen

Weitere Kostenlose Bücher