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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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vor ihm machte, Brahms ihn leutselig begrüßte und der uralte Gnom, in dessen Kutsche er zu seinem Leidwesen wieder einstieg, nicht unfreundlicher zu ihm war als gewöhnlich.
    An jenem Tag verstopften Fuhrwerke und Dampfkutschen die Hauptverkehrsstraßen dichter als Rauch, aber der Gnom nahm einen Umweg über die Tothill Street, sodass Mr.   Jelliby rechtzeitig in Westminster eintraf. Er stieg am South Gate aus und blieb, umgeben von der üblichen Schar von Demonstranten und Zeitungsjungen, eine ganze Weile reglos stehen und ließ die Asche aus den Schornsteinen auf sich herabrieseln. Dann holte er tief Luft und stürzte sich in die kühle Halle.
    Als er den Fuß auf die gewaltigen Steinplatten setzte, schmolz sämtlicher Mut dahin, den Ophelias sanfte Worte ihm eingeflüstert hatten. Plötzlich war er wieder ein kleiner Junge, der den Speisesaal seines neuen Internats betrat, und bei jedem Kichern und bei jedem Seitenblick schoss ihm das Blut ins Gesicht. Er hielt den Blick auf seine Schuhspitzen gerichtet und wünschte, er könnte an all den Leuten, die ihn anstarrten, einfach vorbeifliegen. Erst als er in der hintersten, dunkelsten Ecke des Raumes saß, in dem der Staatsrat tagte, hob er wieder den Kopf. Ein Diener, der damit beschäftigt war, die Stuhlbeine zu wachsen, sah verwundert zu ihm herüber. Einen Moment lang starrten sie einander an. Dann zuckte der Diener mit den Achseln und wandte sich wieder seinem Wachstuch zu. Mr.   Jelliby sank auf seinen Stuhl. Verflixt. Außer ihm und dem Diener war der Raum leer. Offenbar war er viel zu früh dran.
    Hier konnte er unmöglich zwanzig Minuten lang herumsitzen. Nicht während die adeligen Herren einer nach dem anderen eintrudelten und ihn von oben herab ansahen. Er stand auf, hastete hinaus und ging mit schnellem Schritt den Flur entlang, sodass jeder, der ihn sah, glauben musste, er hätte ein Ziel vor Augen. Im neuen Palais schienen die Korridore kein Ende zu nehmen; sie waren alle ungewöhnlich breit und, trotz der Gaslampen, nur schwach erleuchtet. Anfangs herrschte noch überall starkes Gedränge, und Stimmen hallten von den Wänden wider, aber je weiter er lief, umso verlassener wurden die Gänge, bis er nur noch das ferne Ticken einer Uhr hörte, die sich dem Takt seiner Schritte anzupassen schien. Nach einigen Minuten kam er sich recht albern vor, wie er da Korridor um Korridor entlangeilte. Also blieb er vor einer Tür stehen, lauschte, und als er nichts hörte, trat er ein.
    Das Zimmer war klein, verglichen mit den anderen Räumen im Palast kaum mehr als ein Alkoven. Die Wand, die auf den Fluss hinausging, bestand fast nur aus Fenstern, und die übrigen Wände waren hinter leeren Bücherregalen verborgen. Lediglich neben der Tür stand ein großes Aktenkabinett aus Nussbaumholz. Es gab keine Vorhänge, Papiere oder Fotografien. Offenbar handelte es sich um ein Büro, das noch nicht bezogen worden war. Umso besser. Er setzte sich auf die nackten Dielen und beschloss zu warten. In zehn Minuten würde er zurück zum Ratssaal eilen müssen, um ihn gemeinsam mit den anderen Gentlemen zu betreten.
    In dem Zimmer war es sehr still, und ohne Bücher in den Regalen wirkte es noch leerer. Mr.   Jelliby zog seinen Chronometer aus der Tasche und wartete darauf, dass der Minutenzeiger sich bewegte. Eine halbe Ewigkeit verstrich. Tick. Er fing an, mit den Fingern auf den Boden zu trommeln. Tick. Zwei Männer gingen, in ein Gespräch vertieft, an der Tür vorbei. »Äußerst ungebührlich…«, hörte er, bevor die Stimmen sich wieder entfernten. Mr.   Jelliby stand auf und streckte sich. Leise Schritte kamen den Korridor entlang. Wurden sie langsamer? Gütiger Himmel, sie blieben doch nicht etwa stehen? Gleich würden sie vorbeigehen. Sie mussten einfach vorbeigehen!
    Die Schritte hielten inne – direkt vor der Tür des Büros.
    Mr.   Jelliby hielt seine Uhr so fest umklammert, dass das Glas zu bersten drohte. Sein Blick huschte durch das Zimmer. Was sollte er nur tun? Er konnte zur Tür gehen und demjenigen entgegentreten, der da hereinkommen wollte. Oder er konnte sich verstecken. In dem Aktenkabinett zum Beispiel. Und sich wider alle Umstände an die Hoffnung klammern, dass der unbekannte Besucher in Eile war und sich nicht für Wandschränke interessierte. Mr.   Jelliby entschied sich für das Kabinett.
    Dabei handelte es sich um eines jener seltsamen Möbelstücke, die eigentlich eine winzige geschlossene Kammer darstellen, mit Schubladen und Fächern

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