Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
Vom Netzwerk:
Pflaster. »Warum bist du nicht tot? Diesen Zauber hat noch niemand überlebt!« Mr.   Jelliby schnappte verzweifelt nach Luft und zerrte am Kragen seiner Jacke.
    Unterdessen stahl sich Bartholomew aus dem Hauseingang und bückte sich nach einem losen Pflasterstein. Dann bewegte er sich mit erhobener Hand auf den Rücken der Dame zu.
    Ein Warnruf ertönte. Die Dame griff sich an den Hinterkopf und teilte ihr Haar. Mr.   Jelliby krümmte sich vornüber und stürzte zu Boden. Bartholomew erstarrte.
    Das andere Gesicht, das winzige, verwachsene Gesicht starrte ihn direkt an, die Augen wie glitzernde Punkte zwischen den Hautfalten. Dicke braune Tentakel wanden sich im Haar der Dame. Der Mund öffnete sich zu einem höhnischen Grinsen. »Kind Nummer zehn«, sagte er. »Der Junge am Fenster.«
    Bartholomew warf den Pflasterstein.
    Ein Schmerzensschrei schallte so laut durch die Gasse, dass ein Schwarm Dohlen aufstob. Die Dame hob drei Finger, zweifelsohne, um sie beide ein für alle Mal zu erledigen, aber Bartholomew hatte bereits die Beine in die Hand genommen und schlitterte, Mr.   Jelliby dicht auf den Fersen, um die Ecke.
    Die nächste Gasse war breiter. Bartholomew hatte ganz kurz den Eindruck, dass Leute in ihrem Tagewerk innehielten und sie anstarrten, dass ein Fenster aufflog und dass aus einer Fleischerei schwarze Innereien in den Rinnstein flossen. Dann befanden sie sich plötzlich auf einer Hauptverkehrsstraße inmitten von Menschenmassen und klappernden Straßenbahnen. Über ihnen flatterte Wäsche im Wind. Die Luft war von Qualm und Stimmen erfüllt. Bartholomew glaubte, wie zu Hause in der Krähengasse gekochte Rüben zu riechen.
    »Wir müssen zum Bahnhof!«, rief Mr.   Jelliby und drängte sich zwischen einem Pfefferminzwasserverkäufer und einem Elf hindurch, dessen Mund dort war, wo seine Augen hätten sein müssen. »Halte nach einer Rikscha Ausschau, mein Junge. Irgendwo hier in der Gegend müsste sich ein blauer Riese herumtreiben.«
    Bartholomew spähte zwischen den Stoffstreifen hindurch. Um sich herum sah er nichts als Beine. Beine in Anzughosen, Beine in Lumpen, Beine in Baumwolle, grau oder taubenfarben, und alle eilten sie in unterschiedliche Richtungen. So viele Leute. Die Vorstellung löste leichte Panik in ihm aus. Gib acht, dass dich niemand bemerkt. Sie waren überall, ihre Finger und Augen so nah und gefährlich. Und dann entdeckte er zwischen den Beinen ganz kurz etwas Violettes: pflaumenfarbenen Samt, in den sich mitternachtsblaue Finger krallten.
    »Sie ist hier«, zischte Bartholomew Mr.   Jelliby zu.
    Mr.   Jelliby warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. Und da war sie tatsächlich, die pflaumenfarbene Dame, und drängte sich durch die dichte Menge. Sie war einen Kopf größer als der endlose Strom trister Jacken und Hüte, das Gesicht unter der Hutkrempe völlig ausdruckslos. Steif wie eine Marionette setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie war nicht mehr als zwanzig Schritte hinter ihnen, und der Abstand nahm stetig ab.
    Ohne ein Wort schlüpften Bartholomew und Mr.   Jelliby in einen Hauseingang und durch einen grauen Steindurchgang, der auf einen Gemüsegarten hinausging. Der Durchgang führte in eine Küche, in der reges Treiben herrschte, und dann wieder auf eine Straße, die von Geschäften gesäumt war. Sie blieben stehen und schauten sich um.
    »Warum will sie mich umbringen?«, fragte Mr.   Jelliby halb flüsternd, halb schreiend. Er drehte sich auf dem Pflaster um die eigene Achse und strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Sie hat mich um Hilfe gebeten! Mich, um Himmels willen! Und jetzt, wo ich sie gefunden habe, hätte sie mich beinah umgebracht!«
    Auf der Regenrinne über ihnen hockten krächzende Vögel. Bartholomew versuchte, seine Stiefel zu schnüren.
    »Sie hat Sie wirklich um Hilfe gebeten?«
    Es war nicht Bartholomew, der diese Frage stellte. Mr.  Jelliby fuhr herum. Keine sechs Schritte entfernt stand die pflaumenfarbene Dame. Ihre Lippen bewegten sich nicht. Ganz langsam drehte sie sich um. Das zweite Gesicht grinste die beiden durch einen Haarvorhang an. Aus einer klaffenden Wunde über dem Mund rann eine schwarze Flüssigkeit.
    »Melusine, du kleine Verräterin.« Die Stimme klang zwar süßlich, aber sie zitterte vor Wut.
    Mr.   Jelliby starrte das Gesicht mit offenem Mund an. Es starrte zurück, wobei die rissigen Lippen bebten und die kleinen schwarzen Augen wie Käfer zuckten.
    Bartholomew sah seine Chance. Er schlug einen Haken,

Weitere Kostenlose Bücher