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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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eiskalt. Sie werden aus dem Fluss gefischt, ganz kalt und nass. Sie sind leer, treiben da wie Lumpen in der Brühe. Nichts mehr drin! Ha-ha! Gar nichts mehr drin!
    Die Mischlinge waren tot. Sein Freund und… Nein. Nein, nicht Hettie. Hettie durfte nicht tot sein.
    Panische Angst legte sich ihm wie Knochenfinger um den Hals. »Bitte, Sir«, flüsterte er, und dabei schaute er Mr.   Jelliby zum ersten Mal in die Augen. »Die Dame hat meine Schwester entführt.«
    Mr.   Jelliby war das alles sichtlich unangenehm. »Das tut mir leid. Wirklich«, sagte er.
    »Ich muss sie zurückholen. Noch ist dafür Zeit. Sie haben sie doch bestimmt noch nicht getötet, oder?« Eigentlich war es mehr eine flehentliche Bitte als eine Frage.
    »Na ja… na ja, ich weiß es nicht!« Mr.   Jelliby wurde immer verlegener. Er war zu spät gekommen. Die Dame war bereits hier gewesen, und jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als die nächste von Mr.   Zerubbabels Koordinaten aufzuspüren und zu hoffen, dass er dort irgendetwas fand. Er wollte nicht hören, wie der Junge seiner Schwester nachtrauerte. Er wollte nicht wissen, wie hoch der Preis seines Scheiterns gewesen war.
    »Das ist erst Stunden her«, sagte der Junge. »Vielleicht ist sie noch hier in der Nähe. Haben Sie sie gesehen?«
    Irgendwo in Mr.   Jellibys Gehirn klingelte es. Das Kaffeehaus an der Ecke des Trafalgar Square. Eine glitzernde Messingkapsel mit einer hingekritzelten Nachricht. »Schick es auf den Mond«, hatte da gestanden.
    »Deine Schwester ist auf dem Mond«, sagte er. »Was auch immer das bedeuten mag. Viel Glück. Ich muss jetzt wieder los.« Er wandte sich um und ging davon.
    Bartholomew hielt mit ihm Schritt. »Dann ist sie nicht tot?«
    »Ich weiß es nicht!« Mr.   Jelliby lief schneller.
    »Helfen Sie mir, sie zu finden? Nehmen Sie mich mit?«
    Mr.   Jelliby blieb stehen, drehte sich um und sah Bartholomew an.
    »Hör mal, mein Junge. Es tut mir leid, dass deine Schwester verschwunden ist und dass du in Schwierigkeiten steckst, aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Finstere Machenschaften sind im Gange, und ich fürchte, dass ich sehr wenig Zeit habe, sie zu unterbinden. Ich muss die Dame finden – eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Wenn du weißt, wo sie sich aufhält, dann sag es mir. Andernfalls lass mich bitte in Ruhe.«
    Bartholomew hörte ihm nicht zu. »Ich störe Sie ganz bestimmt nicht. Ich kann ja hinter Ihnen laufen, und die halbe Zeit würden Sie gar nicht merken, dass ich da bin, und wenn wir Hettie finden…«
    Mr.   Jelliby wandte sich ab, einen Ausdruck des Bedauerns auf dem Gesicht.
    Als Bartholomew das sah, wurde er von einer grässlichen, schmerzhaften Panik erfasst. »Sie dürfen nicht weggehen!«, rief er und packte Mr.   Jelliby am Ärmel. »Die pflaumenfarbene Dame hat sie geholt! Wenn wir sie finden, finden wir auch meine Schwester! Bitte, Sir, bitte nehmen Sie mich mit!«
    Mr.   Jelliby starrte Bartholomew erschrocken an. Er konnte doch keinen Mischling mitnehmen!
    »Deine Mutter«, sagte er. »Deine Mutter wird das nie erlauben.«
    »Ich hab Ihnen doch gesagt, sie schläft. Ich weiß nicht, wann sie wieder aufwacht. Aber wenn sie aufwacht, und ich bin da und Hettie nicht… das könnte sie nicht ertragen.«
    Mr.   Jelliby gefiel nicht, wie der Junge redete. Er klang irgendwie müde und traurig und alt. »Aber du musst doch bestimmt zum Unterricht«, sagte er etwas schärfer als beabsichtigt. »Das ist sehr wichtig, musst du wissen. Da musst du fleißig hingehen.«
    Bartholomew bedachte Mr.   Jelliby mit einem Blick, der ihm zu verstehen gab, für wie dumm er ihn hielt. »Ich hab keinen Unterricht. Ich geh nicht zur Schule. Darf ich jetzt mit Ihnen kommen?«
    Mr.   Jelliby verzog das Gesicht. Rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. Schaute zum Himmel und über die Schulter. Schließlich sagte er: »Du wirst dich verkleiden müssen.«
    Bartholomew war augenblicklich verschwunden. Drei Minuten später war er wieder da, und jetzt trug er einen schäbigen Wollumhang und eine waldgrüne Kapuze. Der Umhang gehörte dem Kobold; er hatte ihn aus dem Schrank des schlafenden Hausmeisters genommen. An den Füßen trug er ein Paar Stiefel mit Metallkappen, die ihm viel zu groß waren. Er hatte sich einen Streifen Baumwolle um den Kopf gewickelt, immer und immer wieder, bis nur noch ein schmaler Schlitz übrig war, durch den er sehen konnte.
    Mr.   Jelliby fand, dass er wie ein leprakranker Zwerg

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