Die Seltsamen (German Edition)
aussah. Er seufzte.
»Dann mal los.« Er hatte in den Feenslums bereits genug Zeit verschwendet. Selbst mit dem Zug waren es bis zu den nächsten Koordinaten von Mr. Zerubbabel mehrere Stunden.
Er eilte die Gasse entlang, und Bartholomew trapste hinter ihm her.
Kaum hatten sie sieben Schritte zurückgelegt, erregte etwas Bartholomews Aufmerksamkeit. Er hielt inne und blickte nach oben. Der Himmel zwischen den Dächern hatte die Farbe von Zinn. Eine einzelne schwarze Feder schwebte herab, eine dunkle Schneeflocke, wie aus wütenden Wolken gefallen. Langsam trudelte sie auf ihn zu.
Er drehte sich zu Mr. Jelliby um. »Rennen Sie«, sagte er. Und einen Moment später hatte sich die Gasse in ein Meer von Flügeln verwandelt.
VIERZEHNTES KAPITEL
So etwas Hässliches…
Wild um sich schlagend, bahnten sie sich einen Weg durch die kreischenden Flügel und rannten die Gasse entlang. Bartholomew warf einen Blick über die Schulter, und in dem Moment kam die pflaumenfarbene Dame aus der Schwärze herangerauscht. Ihr Gesicht, das halb im Schatten ihres Hutes verborgen war, wandte sich ihm zu. Dann bog er um die Ecke und flitzte Mr. Jelliby hinterher.
»Warum rennen wir?«, schrie Mr. Jelliby, während sie über einen kleinen Innenhof hetzten und unter den Ästen eines knorrigen alten Baumes hindurch. »Mischling, was waren das für Flügel? Was geht hier vor?«
»Die Dame«, keuchte Bartholomew. »Die pflaumenfarbene Dame! Sie ist wieder da, und das bedeu…«
Ich weiß, dass du hier bist, sagte eine dunkle Stimme, die ihm schmeichelnd in den Kopf hineinglitt. Kind Nummer zehn, ich kann dich spüren.
Ein brennender Schmerz zuckte über seine Arme wie eine Messerspitze, die ihm die Haut aufschlitzte. Fast wäre er auf der Stelle zusammengebrochen.
»Die pflaumenfarbene Dame?«, fragte Mr. Jelliby und blieb unvermittelt stehen.
Bartholomew prallte gegen seinen Rücken. Als er den Ärmel seines Umhangs hochkrempelte, sah er, dass die roten Linien geschwollen waren und ein pulsierendes rötliches Licht abgaben.
Du läufst vor mir weg, Halbblut, sagte die Stimme etwas überrascht. Warum das? Hast du vor etwas Angst? Ein Kichern hallte durch Bartholomews Schädel. Vor mir hast du doch bestimmt nichts zu verbergen.
»Aber das ist doch ganz ausgezeichnet!«, sagte Mr. Jelliby unterdessen. »Nach ihr suche ich seit Wochen! Und du hast gesagt, dass deine Schwester bei ihr ist. Ich muss unverzüglich mit ihr sprechen.« Er stampfte entschlossen mit dem Fuß auf und wandte sich um.
Bartholomew warf sich mit aller Kraft auf Mr. Jelliby und stieß ihn in einen Hauseingang. »Sie begreifen überhaupt nichts«, sagte er und biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz laut aufzuheulen. »Sie ist nicht immer dieselbe. Sie macht furchtbare Sachen. Kapieren Sie denn nicht – sie hat all diese Morde begangen!«
Mr. Jelliby runzelte die Stirn und sah ihn von oben herab an. »Sie hat mich um Hilfe gebeten«, sagte er. Dann schüttelte er Bartholomew ab und ging denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Dabei rief er unentwegt: »Miss! Hallo, Miss!«
»Das können Sie doch nicht machen!«, rief Bartholomew verzweifelt und rannte ihm hinterher. Aber es war zu spät.
Eine Sturmbö aus schwarzen Flügeln erfüllte die Mündung der Straße, und vor ihnen stand, von ihren Samtröcken umwirbelt, die pflaumenfarbene Dame. Als sie Mr. Jelliby erblickte, zuckte etwas unter ihrer Haut, als würden sich winzige Würmer zwischen Knochen und Sehnen hindurchschlängeln.
»Du«, sagte die Stimme, und dieses Mal war sie nicht nur in Bartholomews Kopf zu hören. Sie glitschte die Mauern entlang und kribbelte ihm in den Ohren. Die Dame setzte sich in Bewegung.
»Miss!«, rief Mr. Jelliby. »Miss, ich muss über etwas sehr Dringliches mit Ihnen sprechen! Sie haben mich um Hilfe gebeten, erinnern Sie sich noch? In Westminster? Ich saß in dem Kabinett, und Sie…«
Die Dame kam unaufhaltsam näher, hob eine in blauen Samt gehüllte Hand und ließ sie durch die Luft sausen. Mr. Jelliby wurde von den Füßen gerissen und gegen die Wand geschleudert. Bartholomew warf sich herum und stürzte zurück in den Hauseingang. Im selben Augenblick rauschte so etwas wie ein unsichtbarer Vogelschwarm an seinem Gesicht vorbei.
»Warum bist du noch am Leben?«, fauchte die Stimme. Die Finger der Dame deuteten noch immer auf Mr. Jelliby und nagelten ihn an der Wand fest. Seine Füße baumelten ein ganzes Stück über dem
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