Die Seltsamen (German Edition)
inne.
»Also gut«, sagte er zu niemand Bestimmtem und ließ einen letzten misstrauischen Blick durchs Zimmer schweifen. Dann nahm er Hettie an der Hand und zog sie zur Tür.
»Komm mit, Halbblut. Hast du Durst? Du möchtest doch bestimmt etwas trinken, nicht wahr?«
»Es tut mir leid, dass sie tot ist«, sagte Bartholomew leise. Eigentümlicherweise tat es ihm wirklich leid. Sie war ihm immer wie ein Phantom oder eine Hexe vorgekommen, ein Symbol alles Bösen, das sich in sein Leben gedrängt hatte. Mit ihr hatte alles angefangen, als sie in der Gasse aufgetaucht war und den jungen Buddelbinster fortgeholt hatte. Aber letztlich war das gar nicht sie gewesen. Als er sich ihr unter dem Dachvorsprung in der Krähengasse genähert hatte, da war er der echten Melusine begegnet. Er hatte ihre sanfte Stimme gehört und ihren törichten Äußerungen über Diener und Pfirsiche gelauscht. Nie würde er den Schmerz vergessen, der in ihren Augen schimmerte, als sie die Rattenfee über das Pflaster auf sich zurasen sah. Sag Papa, dass es mir leidtut, hatte sie geflüstert. Sag Papa, dass es mir leidtut.
Falls Bartholomew lang genug lebte, würde er es ihrem Vater sagen. Er würde ihn suchen und ihm sagen, wie sehr Melusine ihn am Ende ihres Lebens geliebt hatte, wie sehr sie sich gewünscht hatte, wieder zu Hause zu sein.
Bartholomew kniete sich neben Jack Box. Fast hätte er den Arm ausgestreckt und ihn berührt, aber dazu konnte er sich nicht durchringen. Er ballte die Hand zur Faust und sagte: »Sie müssen nicht mehr tun, was Mr. Lickerish Ihnen sagt. Sie müssen niemandem mehr weh tun. Wissen Sie, wo meine Schwester ist? Können Sie mich zu ihr bringen? Bitte, Sir. Bitte helfen Sie mir, sie zu retten.«
Einen Moment lang schwieg Jack Box. Sein Gesicht war in dem sich windenden Knäuel aus Fell und Schwänzen kaum zu erkennen. Die Ratten spürten offenbar, dass etwas nicht stimmte. Sie krochen übereinander hinweg, ihre Augen rollten nach oben, und ihre gelben Zähne klapperten. Einen Moment lang schwieg Jack Box. Dann sagte er mit gedämpfter Stimme: »Warum sollte ich dir helfen? Warum sollte ich jetzt noch irgendjemandem helfen?«
Bartholomew spürte, wie sich ihm die Nägel in die Handflächen gruben. »Weil…«, stammelte er, aber er wusste keine Antwort. Nicht jetzt, in diesem Moment. Er konnte nur an Hettie denken, an ihre dämlichen Zweige, die sich nicht abschneiden ließen, und daran, wie oft sie seine Hand gehalten hatte. »Bitte helfen Sie mir doch. Warum wollen Sie mir denn nicht helfen?«
Von weiter unten ertönte ein Klirren – die Luke im Boden begann, sich zu öffnen, und riss ein riesiges Loch in die Wärme. Ein Windstoß fuhr herein und pfiff Bartholomew um die Ohren. Dann ging im Korridor über ihnen eine Tür auf und zu. Schritte stampften dumpf über den Teppich.
Da kommt jemand. Bartholomew erhob sich und blieb geduckt stehen, jeden Moment bereit loszurennen. Wir müssen von hier verschwinden. Sofort.
Aber die Rattenfee setzte sich nur ein wenig auf und starrte Bartholomew mit flehentlichem Blick an.
»Sie müssen mir helfen!«, wiederholte Bartholomew verzweifelt. »Ich weiß nicht, warum, aber Sie müssen einfach! Meine Schwester stirbt sonst! Bitte helfen Sie mir doch.«
Jack Box wandte den Blick ab. Die Ratten gerieten immer mehr in Raserei, aber das Gesicht der Fee war völlig reglos geworden, geradezu versteinert.
»Nein«, sagte sie. Das kleine Wort fiel ihr wie ein totes Tier aus dem Mund. Und dann schleppte sie sich zum Rand der Luke und glitt in die Nacht hinaus. Bartholomew schaute ihr nicht nach. Er hielt sich die Ohren zu, um nicht die Schreie der Ratten zu hören, und drehte das Gesicht zur Wand.
Mr. Lickerish hatte seinen Apfel aufgegessen. Er legte das Gehäuse auf den Tisch, fing an, die Kerne herauszupicken, und platzierte sie in einer ordentlichen Reihe nebeneinander. Nachdem er diese Aufgabe zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte, zog er an der Klingel und bestellte bei dem buckligen Gnom ein Glas Milch. Die Milch wurde alsbald gebracht, doch anstatt sie zu trinken, schnippte Mr. Lickerish die Apfelkerne in seine hohle Hand und ließ sie in das Glas gleiten. Dann ging er zum Fenster und sah hinaus, die schwarzen Satinmanschetten hinter dem Rücken verschränkt.
Ein leises Klimpern veranlasste ihn, sich umzudrehen. Das Zimmer war leer. Ein Federwerkvogel starrte mit glänzenden Augen ins Nichts. In dem Glas hatte sich auf der Milch eine dünne Schicht
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