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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Brombeeren angenommen. »Barthy, was passiert da? Was schaust du mich so an?«
    In dem Moment, als die Linie die festgenagelten Schuhe erreichte, zerfielen diese zu feinen Flocken, die über den Boden jagten. Aus der leichten Brise wurde ein starker Wind, der sich in den Zweigen auf ihrem Kopf verfing. Und plötzlich waren hinter ihr keine Wand mehr, keine Kisten und kein Lagerhaus, sondern ein riesiger finsterer Wald, der sich bis zum Horizont erstreckte. Schnee bedeckte den Boden. Die Bäume waren schwarz und entlaubt, und sie waren älter und größer als die Bäume in England. Ein ganzes Stück entfernt entdeckte Bartholomew mitten unter ihnen eine gemauerte Hütte. In ihrem Fenster brannte ein Licht.
    Hettie schlang die Arme um sich und sah ihren Bruder mit weit aufgerissenen Augen an.
    »Es klappt«, lispelte eine Stimme oben an der Decke. Bartholomew fuhr herum, blickte hoch und entdeckte in der Düsternis eine kleine weiße Gestalt, die sich an das Ende einer der Ketten klammerte, die dort baumelten. Sie starrte Hettie an und den Wald. Ihr Mund war breit und leer, und irgendwo in ihrer kalten, nassen Stimme war der Widerhall von Mr.   Lickerishs Flüstern zu hören. »Das Portal öffnet sich.«
    Bartholomew wandte sich wieder zu Hettie um. Das Portal öffnete sich wirklich! Die schwarze Linie wurde ganz langsam breiter, dehnte sich kreisförmig aus wie ein finsterer Flammenreif. Fehlte nur noch der Tiger, der hindurchsprang. Und während das Portal größer wurde, wurde auch sein Rahmen größer, bis er keine schwarze Linie mehr war, sondern eine sich windende Kette aus zornig schlagenden Flügeln. Sie glichen den Flügeln, die Jack Box und Melusine umflogen, wohin sie auch gingen, nur irgendwie mächtiger, schwärzer. Und was sie berührten, wurde auf der Stelle zerstört. Die Steinplatten, die den Boden des Lagerhauses bildeten, kräuselten sich und barsten, sobald sie darüberstrichen. Die Kisten in ihrer Nähe explodierten, sodass es Holzsplitter regnete. Und noch immer stand Hettie wie angewurzelt da, eine kleine Gestalt vor dem Hintergrund des schneebedeckten Waldes im Alten Land.
    »Ja«, zischte der Milch-Homunkulus mit Mr.   Lickerishs Stimme. »Kind Nummer elf. Du hast dich geöffnet.«
    Der Feenbutler taumelte zum Aufzug, doch Mr.   Jelliby stürzte sich ein weiteres Mal auf ihn und trat und schlug ihn mit aller Kraft. Bartholomew machte einen Schritt auf Hettie zu. Er spürte den Wind, roch das Eis und die Fäulnis des uralten Waldes. Das Portal war nicht besonders groß. Mutter hatte immer gesagt, das Portal in Bath sei größer gewesen als alles, was die Welt je gesehen hatte.
    »Geh zu ihr, mein Junge«, sagte der Milchimp an der Decke. »Geh und hol sie und bring sie nach Hause.« Die Stimme hatte jetzt einen durchtriebenen Beiklang, wie ein Seidentuch, das um ein scharfes Messer gewickelt war. »Keine Angst. Die Sylphen tun dir schon nichts. Schließlich bist du ihresgleichen.« Der Homunkulus beugte sich ein Stück vor. »Na los«, drängte er. »Worauf wartest du?«
    Das ließ sich Bartholomew nicht zweimal sagen. Er fing an zu laufen, wobei er einen Haken schlug, um Mr.   Jelliby und dem Feenbutler auszuweichen. Dann hatte er Hettie erreicht und zog sie zu sich heran.
    Hettie wurde nach vorne geschleudert und ließ die schwarzen Flügel des Portals hinter sich. Ihre Füße berührten den Steinboden. Bartholomew hielt ihre Hand und wollte mir ihr zum Fenster laufen. Hinter ihm erschütterte ein fürchterlicher Ruck das Portal. Die Flügel stoben kreisförmig auseinander und verschlangen alles, was ihnen in die Quere kam. Bartholomew spürte, wie ihm Knochen und rauhes Gefieder über die Haut scharrten. Aber der Homunkulus hatte nicht gelogen. Was für Feengeschöpfe sich in diesen Flügeln auch verbergen mochten, sie taten ihm nichts.
    »Bartholomew!«, schrie Mr.   Jelliby und duckte sich; das Messer des Feenbutlers sirrte über ihn hinweg. »Bring sie wieder an ihren Platz! Schnell, sonst sterben wir alle!«
    Bartholomew versetzte Hettie in panischer Angst einen Stoß, aber der Schaden war bereits angerichtet. Das Portal hatte beinahe die Decke des Lagerhauses erreicht – ein gewaltiger Wirbelsturm aus Flügeln, der sich alles einverleibte, was in seine Reichweite kam. Der Wind schlug Bartholomew ins Gesicht und brachte eisigen Schnee mit sich. Der Wald schien den ganzen Raum einzunehmen, als würden die Holzkisten und der Fluss tiefste Finsternis verströmen. Füße stampften ganz

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