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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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sind.«
    »Halt den Mund«, fauchte die Rattenfee. Gelbe Zähne zwickten Bartholomew in den Rücken, in die Handgelenke und in die Schulter. »Halt den Mund, Kleiner, du hast ja…«
    Bartholomew hätte am liebsten vor Schmerz geschrien, aber er tat es nicht. »Er wird Ihnen nicht helfen, begreifen Sie das nicht? Sie werden sterben, sobald sich das Portal öffnet. Sie werden sterben wie alle anderen auch. Mr.   Lickerish interessiert sich nicht für Sie. Das Einzige, was ihn interessiert, ist er selbst.«
    Auf einmal warf die Rattenfee Bartholomew gegen das Geländer und fiel in sich zusammen. Sich überschlagend, purzelte sie die Stufen hinunter. Bartholomew schaute zu, wie sie am Fuß der Treppe liegen blieb, ein erbärmliches, zitterndes Knäuel.
    Dann blickte er die Treppe hinauf. Sollte er wegrennen? Gut möglich, dass er beobachtet wurde. Von einem kleinen Wichtel vielleicht, der auf dem Kronleuchter hockte, oder von einem Gesicht in der Wandvertäfelung. Und wohin sollte ich auch fliehen?
    Bartholomew näherte sich langsam der Rattenfee.
    »Was ist denn mit Melusine los?«, fragte er mit möglichst sanfter Stimme. »Wenn wir Mr.   Lickerish aufhalten, können Sie ihr helfen. Das ist der einzige Weg, um ihr zu helfen.«
    Die Rattenfee blickte zu Bartholomew auf. Ihr Gesicht zeigte erst Überraschung, dann Argwohn und schließlich Verwirrung. Bartholomew hatte eine Antwort erwartet, aber ihr Mund öffnete und schloss sich nur über schiefen Zähnen.
    »Wer ist sie?«, fragte Bartholomew und kauerte sich neben die Fee auf den Boden. »Wer ist Melusine?«
    Für einen Augenblick wurden die Gesichtszüge der kleinen Kreatur wieder abweisend. Bartholomew zuckte zurück, fest davon überzeugt, dass sie sich aufrappeln und ihn weiterzerren würde. Aber dann verschwand die abweisende Miene ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war, und sie wurde durch etwas ersetzt, das Bartholomew in einem so unmenschlichen Gesicht noch nie gesehen hatte: einen wehmütigen Blick, der traurig in die Ferne schweifte.
    »Ich habe sie in Dublin kennengelernt«, sagte die Fee mit rauher Stimme. »Sie wollte sich auf der Nassau Street ein paar Haarbänder kaufen, und sie war wunderschön. Aber ach, ich war so hässlich, wie ich sie da aus dem Halbdunkel beobachtete. Also wirkte ich einen Zauber, der mich im Nu in den stattlichsten Mann auf der ganzen Welt verwandelte. Ich gesellte mich zu ihr und sagte ihr, wie hübsch die violetten Schleifen in ihrem Haar aussehen würden. Wir kamen ins Gespräch. Sie stellte mich ihren Eltern vor, und ich wurde bei ihnen zum Abendessen eingeladen…
    Im Mai sollten wir heiraten. Aber das dumme Dienstmädchen… das törichte, abergläubische Ding trägt Tag und Nacht einen Ring aus Eisen am Finger. Aber vielleicht ist sie gar nicht so töricht. Sie hat meine Magie von Anfang an durchschaut. Sie hat mich als das gesehen, was ich wirklich bin, ein grässliches Knäuel aus Ratten, das neben ihrer Herrin einherschleicht. Eine Weile lang dachte sie, sie wäre verrückt. Dann vertraute sie sich dem Leibdiener an. Der Leibdiener sagte es der Köchin, die Köchin sagte es der Haushälterin, und irgendwann hörte Melusines Vater von der Geschichte. Er war immer so freundlich, selbst mir gegenüber, und er liebte seine Tochter über alles. Das Gerücht beunruhigte ihn zutiefst. Man schickte nach Arklow; von dort sollte ein Feenjäger kommen, um herauszufinden, ob im Haus ein magischer Betrug im Gange war. Melusines Vater rief seine Tochter zu sich und erzählte ihr von seinen Befürchtungen. Aber ich hatte bereits vorher mit ihr gesprochen und sie gegen ihn aufgebracht. Sie schalt ihn einen Lügner und ein herzloses Ungeheuer, wir flohen gemeinsam in das aufziehende Gewitter hinaus und ritten mit den Ponys über den Hügel.«
    Er hielt inne, und an Bord des Luftschiffs wurde es sehr still. Die Flammen in den Gaslampen flackerten lautlos. Außer dem Summen der Motoren war nichts zu hören.
    In Bartholomews Kopf überschlugen sich die Gedanken. Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss Mr.   Jelliby finden. Ich muss Hettie finden, bevor sie in irgendein scheußliches Portal verwandelt wird. Er fragte sich, wie stark die Rattenfee wohl noch war und was sie tun würde, wenn er wegrannte. Seine Finger schlossen sich um eine Spindel im Geländer. Er konnte sie herausreißen, dachte er bei sich, und damit auf die Ratten einprügeln.
    Aber dann sah die Rattenfee ihn wieder an, und ihre Augen waren feucht und tief und

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