Die Seltsamen (German Edition)

gebildet, wie immer, wenn Milch einigermaßen frisch ist. Die dünne Schicht verwandelte sich vor Mr.   Lickerishs Augen in Haut. Die Haut wurde dicker. Und auf einmal kippte das Glas um. Ein blauweißer Milchklumpen plumpste auf die glatte Oberfläche des Schreibtischs und wackelte auf die Tischkante zu. Mr.   Lickerish fing ihn auf und hielt ihn hoch. Sein Mund spannte sich über seinen scharfen Zähnen zu einem breiten Lächeln. Vage konnte er in der Mitte der Milch die Apfelkerne ausmachen, aus denen kleine Adern und Lungen und ein Herz sprossen. Dann traten zwei Kerne an die Oberfläche und bildeten ein Augenpaar, und der Klumpen erhob sich schwankend auf zwei stielförmige Beine. Er hatte einen riesigen Mund, der offen hing, breit und nackt und leer.
    »Bezaubernd«, sagte Mr.   Lickerish, noch immer lächelnd. »Homunkulus, du wirst jetzt für eine kleine Weile meine Augen sein. Eile ins Lagerhaus hinunter und halte Ausschau. Was auch immer du siehst, sehe ich auch, und was auch immer ich sage, sagst du auch. Hast du das verstanden?«
    Der Milchklumpen starrte Mr.   Lickerish ein wenig schwermütig aus seinen Apfelkernaugen an. Er nickte bedächtig. Dann hüpfte er von der Hand der Fee herunter und wabbelte über die Dielen zur Tür.
    Mr.   Jelliby entdeckte Bartholomew im Foyer des Luftschiffs, wo er versuchte, sich unter einem Teppich zu verstecken. Die Luke stand offen. Es war eine klare, kalte Nacht, und die Stadt erstreckte sich bis zum Horizont. Die Straßen bildeten ein leuchtendes Spinnennetz; Mayfair und High Holborn erstrahlten im Glanz der Flammenfeen, wohingegen entlang der ärmeren Straßen nur Gaslaternen brannten, die schwach flackerten, wenn sie nicht bereits erloschen waren.
    »Bartholomew! Was machst du da? Geh vom Rand weg!«, zischte Mr.   Jelliby und durchquerte das Foyer auf Zehenspitzen. »Der Feenbutler ist in diesem Moment bei Mr.   Lickerish. Er hat deine Schwester, und er holt das Elixier, um mit ihr im Aufzug nach unten zu fahren.«
    Bartholomew setzte sich kerzengerade auf. »Hettie? Sie haben sie gesehen?«
    »Ja! Mit eigenen Augen! Aber wir müssen uns beeilen.« Er rannte zum Rand der Luke, streckte die Hand nach dem Aufzug aus und inspizierte ihn hastig.
    »Da. Siehst du die Metallstangen an der Unterseite? Dort können wir uns, glaube ich, hineinquetschen, und wenn der Butler im Lagerhaus allein ist, überraschen wir ihn. Schnell jetzt! Rein mit dir.«
    Ohne ein weiteres Wort flitzte Bartholomew zum Rand der Luke und auf die Metallstangen. Die Wärme des Foyers war augenblicklich dahin. Gefrorene Asche umwehte ihn ungestüm, doch er bemerkte es kaum. Mr.   Jelliby hat sie gefunden. Sie ist hier, und sie lebt noch.
    Unter dem Aufzug war kaum ein halber Meter Platz, und Bartholomew war hier völlig ungeschützt. Nur die Stangen bewahrten ihn davor, in die Finsternis hinabzustürzen, und zwischen ihnen war jeweils ein großer Abstand. Das ist die Gepäckablage, dachte er. Wo die Koffer und Hutschachteln verstaut worden wären, wäre das Luftschiff für normale Zwecke genutzt worden.
    Mr.   Jelliby zerrte an dem Kabel, und der Aufzug sank ein kleines Stück nach unten. Die Gepäckablage befand sich jetzt unterhalb des Lukenrands. Dann schwang auch er sich hinunter.
    Keinen Augenblick zu früh! Mr.   Jelliby blieb kaum Zeit, seine Arme und Beine anzuziehen, bevor die ersten Schritte auf der Treppe ertönten.
    »Los, komm!« Das Wimmern des Feenbutlers hallte ins Foyer herab. »Bei den Steinen, was bist du für ein störrisches Geschöpf! Die anderen neun waren nicht halb so schlimm.«
    Es folgte ein Schlurfen, während er Hettie hinter sich herzog und sie sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten. Dann schaukelte der Aufzug hin und her – sie waren eingestiegen. Bartholomew blickte durch das Metallgitter des Bodens nach oben. Immerhin konnte er erkennen, dass sich Hetties nackte Füße und die riesigen Sohlen der Schuhe des Feenbutlers über ihm befanden. Aber da war noch etwas anderes. Etwas Kleines, Rundes, das nie stillhielt und ein sonderbares Geräusch machte wie Wasser in einem Krug.
    Bartholomew hielt den Atem an. Hettie war ihm so nahe. Nur wenige Zentimeter. Am liebsten wäre er hinaufgestiegen, um sie zu umarmen und ihr zu sagen, dass er sie gefunden hatte und sie bald nach Hause gehen würden. Nicht mehr lange, und…
    Der Aufzug setzte sich in Bewegung und sank knarrend durch die Nacht. Das einzige Licht stammte aus dem grünen Auge des Feenbutlers. Mr.