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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Blumen.
    Plötzlich schien die
     Brosche in meiner Hand zu glühen.
    Sir Henry hob sie behutsam
     auf. Er drehte die Brosche um und kramte ein winziges Taschenmesser aus
     der Tasche, das er aufklappte. Vorsichtig untersuchte er die Fugen an der
     Rückseite. Mit einem leisen Kläcken ließ sie sich öffnen.
    Ich sah rote Flammen
     aufblitzen. Im Innern der Brosche verbarg sich die exquisite Miniatur
     eines jungen Mannes.
    »Ein Hilliard«,
     sagte Sir Henry ehrfurchtsvoll.
    Nicholas Hilliard war der
     Shakespeare der englischen Renaissance-Malerei. Auf der Miniatur hatte der
     Maler sein Modell in zwangloser Unterkleidung porträtiert; das lose
     Batisthemd mit dem breiten Spitzenkragen war am Hals gelockert. Das Haar
     des jungen Mannes war kurz geschnitten, Schnurrbart und Kinnbart
     ordentlich gestutzt; in seinem Ohr blinkte ein rubinrotes Kreuz. Seine
     Augen waren intelligent und sensibel, die Brauen hochgezogen, als hätte
     er gerade einen Scherz gemacht und wartete, ob der Zuhörer gewitzt
     genug war, ihn zu verstehen. In einer Hand hielt er einen Anhänger,
     den er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Der Hintergrund war ein
     loderndes Flammenmeer.
    »Wer ist das?«,
     flüsterte ich.
    Sir Henry zeigte auf eine
     feine schwarze Inschrift, die die Flammen zu seiner Linken einfasste: Dein
     ew’ger Sommer doch soll nie verrinnen. »Kennst du die Zeile?«,
     fragte er mit rauer Stimme.
    Ich nickte. Sie stammte aus
     einem von Shakespeares bekanntesten Sonetten. Soll ich dich einem
     Sommertag vergleichen? Er ist wie du so lieblich nicht und lind.
    Sir Henrys wunderschöne
     Stimme erfüllte den Wagen:
     
    Dein ew’ger Sommer
     doch soll nie verrinnen,
    Nie fliehn die Schönheit,
     die dir eigen ist,
    Nie kann der Tod Macht
     über dich gewinnen,
    Wenn du in meinem Lied
     unsterblich bist.
     
    Er hielt einen Moment inne,
     dann intonierte er das Couplet, das das Sonett beschloss:
     
    Solange Menschen atmen,
     Augen sehn,
    Lebt mein Gesang und schützt
     dich vorm Vergehn.
     
    »Glauben Sie, dass er
     Shakespeare ist?«, fragte Ben.
    Sir Henry schüttelte den
     Kopf. »Nein. William, ja. Shakespeare, nein.« Er neigte den
     Kopf, als lauschte er einer fernen Melodie. Dann zitierte er aus einem
     anderen Sonett.
     
    Wie ändern ihre Wünsche,
     so ward dir
    Dein Will’, Will
     obendrein, und Will im Überfluss.
     
    »Hier spricht
     Shakespeare zu seiner Mätresse über ihre Neigung zu doppelten
     Spielen … Der Jüngling, den der Dichter in ihre Arme trieb,
     scheint ebenfalls ein Will zu sein.« Er seufzte. »Also nicht
     Shakespeare. Shakespeares Geliebter.«   
    »Einer davon«,
     sagte Ben.
    Henry sah ihn vorwurfsvoll
     an. »Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, wir sehen hier den
     goldenen Jüngling aus Shakespeares Sonetten vor uns, der in den heißen
     Flammen der Liebe brennt.«
    »Aber welche Art von
     Liebe?«, fragte ich und zeigte auf die Buchstaben rechts.
    Ad maiorem Dei Gloriam, stand
     dort. Zur größeren Ehre Gottes.
    Ich sah näher hin. Der
     Anhänger in der Hand des Jünglings war weniger fein gemalt als
     der Rest, als wäre er zu einem späteren Zeitpunkt verändert
     worden. Was auch immer er ursprünglich in der Hand gehalten hatte,
     jetzt hielt er ein Kruzifix. Ein verbotener Gegenstand zur Zeit von
     Elisabeth I. und Jakob I. In der anglikanischen Kirche gab es nur
     schlichte Kreuze; das Kruzifix mit der Figur des leidenden Jesu war ein römisches
     Symbol. Ein katholisches.       
    Hilliard, ein glühender
     Protestant, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dem Hof zu
     gefallen, hatte zweifellos Feuer und Eis der irdischen Leidenschaften
     gemalt. Doch später hatte ein anderer, gröberer Pinsel die Szene
     in eine andere Passion verwandelt: Er hatte das Feuer in Flammen des Märtyrertums
     umgedeutet. Meinte er ein echtes Märtyrertum oder nur imaginiertes?
    »Tut mir leid, aber Sie
     können hier nicht halten«, sagte eine Stimme. Erschrocken
     klappte ich das Medaillon zu.
    Der Wagen war langsamer
     geworden, und Barnes hatte das Fenster heruntergelassen. Darin tauchte das
     Gesicht eines grauhaarigen Mannes mittleren Alters mit einer dicken Brille
     auf. Er trug die rote Kutte eines Küsters. Hinter ihm erhoben sich
     die prächtigen weißen Mauern der Westminster Abbey. »Sie
     können hier nicht halten«, wiederholte er, doch dann brach er
     ab. »Oh, Sir Henry. Ich habe Sie gar nicht erkannt. Wie schön,
     Sie wiederzusehen,

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