Die Shakespeare-Morde
Blumen.
Plötzlich schien die
Brosche in meiner Hand zu glühen.
Sir Henry hob sie behutsam
auf. Er drehte die Brosche um und kramte ein winziges Taschenmesser aus
der Tasche, das er aufklappte. Vorsichtig untersuchte er die Fugen an der
Rückseite. Mit einem leisen Kläcken ließ sie sich öffnen.
Ich sah rote Flammen
aufblitzen. Im Innern der Brosche verbarg sich die exquisite Miniatur
eines jungen Mannes.
»Ein Hilliard«,
sagte Sir Henry ehrfurchtsvoll.
Nicholas Hilliard war der
Shakespeare der englischen Renaissance-Malerei. Auf der Miniatur hatte der
Maler sein Modell in zwangloser Unterkleidung porträtiert; das lose
Batisthemd mit dem breiten Spitzenkragen war am Hals gelockert. Das Haar
des jungen Mannes war kurz geschnitten, Schnurrbart und Kinnbart
ordentlich gestutzt; in seinem Ohr blinkte ein rubinrotes Kreuz. Seine
Augen waren intelligent und sensibel, die Brauen hochgezogen, als hätte
er gerade einen Scherz gemacht und wartete, ob der Zuhörer gewitzt
genug war, ihn zu verstehen. In einer Hand hielt er einen Anhänger,
den er an einer goldenen Kette um den Hals trug. Der Hintergrund war ein
loderndes Flammenmeer.
»Wer ist das?«,
flüsterte ich.
Sir Henry zeigte auf eine
feine schwarze Inschrift, die die Flammen zu seiner Linken einfasste: Dein
ew’ger Sommer doch soll nie verrinnen. »Kennst du die Zeile?«,
fragte er mit rauer Stimme.
Ich nickte. Sie stammte aus
einem von Shakespeares bekanntesten Sonetten. Soll ich dich einem
Sommertag vergleichen? Er ist wie du so lieblich nicht und lind.
Sir Henrys wunderschöne
Stimme erfüllte den Wagen:
Dein ew’ger Sommer
doch soll nie verrinnen,
Nie fliehn die Schönheit,
die dir eigen ist,
Nie kann der Tod Macht
über dich gewinnen,
Wenn du in meinem Lied
unsterblich bist.
Er hielt einen Moment inne,
dann intonierte er das Couplet, das das Sonett beschloss:
Solange Menschen atmen,
Augen sehn,
Lebt mein Gesang und schützt
dich vorm Vergehn.
»Glauben Sie, dass er
Shakespeare ist?«, fragte Ben.
Sir Henry schüttelte den
Kopf. »Nein. William, ja. Shakespeare, nein.« Er neigte den
Kopf, als lauschte er einer fernen Melodie. Dann zitierte er aus einem
anderen Sonett.
Wie ändern ihre Wünsche,
so ward dir
Dein Will’, Will
obendrein, und Will im Überfluss.
»Hier spricht
Shakespeare zu seiner Mätresse über ihre Neigung zu doppelten
Spielen … Der Jüngling, den der Dichter in ihre Arme trieb,
scheint ebenfalls ein Will zu sein.« Er seufzte. »Also nicht
Shakespeare. Shakespeares Geliebter.«
»Einer davon«,
sagte Ben.
Henry sah ihn vorwurfsvoll
an. »Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, wir sehen hier den
goldenen Jüngling aus Shakespeares Sonetten vor uns, der in den heißen
Flammen der Liebe brennt.«
»Aber welche Art von
Liebe?«, fragte ich und zeigte auf die Buchstaben rechts.
Ad maiorem Dei Gloriam, stand
dort. Zur größeren Ehre Gottes.
Ich sah näher hin. Der
Anhänger in der Hand des Jünglings war weniger fein gemalt als
der Rest, als wäre er zu einem späteren Zeitpunkt verändert
worden. Was auch immer er ursprünglich in der Hand gehalten hatte,
jetzt hielt er ein Kruzifix. Ein verbotener Gegenstand zur Zeit von
Elisabeth I. und Jakob I. In der anglikanischen Kirche gab es nur
schlichte Kreuze; das Kruzifix mit der Figur des leidenden Jesu war ein römisches
Symbol. Ein katholisches.
Hilliard, ein glühender
Protestant, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dem Hof zu
gefallen, hatte zweifellos Feuer und Eis der irdischen Leidenschaften
gemalt. Doch später hatte ein anderer, gröberer Pinsel die Szene
in eine andere Passion verwandelt: Er hatte das Feuer in Flammen des Märtyrertums
umgedeutet. Meinte er ein echtes Märtyrertum oder nur imaginiertes?
»Tut mir leid, aber Sie
können hier nicht halten«, sagte eine Stimme. Erschrocken
klappte ich das Medaillon zu.
Der Wagen war langsamer
geworden, und Barnes hatte das Fenster heruntergelassen. Darin tauchte das
Gesicht eines grauhaarigen Mannes mittleren Alters mit einer dicken Brille
auf. Er trug die rote Kutte eines Küsters. Hinter ihm erhoben sich
die prächtigen weißen Mauern der Westminster Abbey. »Sie
können hier nicht halten«, wiederholte er, doch dann brach er
ab. »Oh, Sir Henry. Ich habe Sie gar nicht erkannt. Wie schön,
Sie wiederzusehen,
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