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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Sir.« 
    Und dann erschwindelte sich
     Sir Henry trotz des ausdrücklichen Halteverbots die Erlaubnis, den
     Bentley direkt vor dem Tor der Abbey zu parken, unter dem Vorwand, er
     wolle zwei jungen Freunden die Schönheit der Abendandacht
     nahebringen. Ich schob die Brosche in meine Jackentasche, und wir stiegen
     aus.
    Der Küster verscheuchte
     eine kleine Touristengruppe. »Leider hat die Andacht schon begonnen«,
     sagte er.
    »Wir sind so still wie
     Kirchenmäuse«, versprach Sir Henry.
    »Rein und wieder raus«,
     flüsterte Ben, als wir eilig auf das große Westportal zugingen.
     »So schnell wie möglich.«
    Die Propheten in den
     Buntglasfenstern an der Westseite gaben dem wässrigen graugrünen
     Licht in der Kirche einen farbigen Schimmer. Vom Chorraum schwebte der
     überirdische Sopran eines einzelnen Knaben durch den Raum bis unter
     die Deckengewölbe. Nun danket alle Gott… Die tiefen Töne
     des Männerchors stimmten mit ein und flochten sich melodisch, in
     elisabethanischer Polyphonie, unter die jungen Stimmen. William Byrd
     vielleicht oder Rinckart.
    Sir Henry hastete durch das
     leere Kirchenschiff auf den von goldenem Licht erfüllten Chorraum zu.
     Ich musste mich beeilen, um mitzuhalten. Durch einen reich verzierten
     Spitzbogen sah ich den Chor und die Gemeinde, doch Sir Henry verschwand
     rechts hinter einer massigen Säule und steuerte auf einen schwach
     erleuchteten Gang zu. Ben und ich folgten ihm. Als der Gang sich wieder
     öffnete, blieb Sir Henry stehen und zeigte auf die Ecke, die vor uns
     lag. Wir standen im südlichen Querschiff. Poets’ Corner.
    Vor uns, auf einem breiten
     Sockel unter einem klassizistischen Giebel, hielt ein lebensgroßer
     Marmor-Shakespeare Hof. Um ihn herum hingen die Büsten anderer Poeten
     an der Wand, die ihn wie ein Schwarm heiliger Englein umringten, doch der
     Barde würdigte sie keines Blickes. In ewiger Lässigkeit lehnte
     er auf einem Stapel Bücher, während seine linke Hand auf eine
     herabhängende Schriftrolle deutete.
    Ich ging auf Zehenspitzen näher
     heran, um die Inschrift zu lesen. Prosperos Worte - der wehmütige
     Abschied des Magiers von der Kunst aus ›Der Sturms Im Hintergrund
     schwoll der Chorgesang an und verebbte wieder.
     
    So sollen die wolkenumkränzten
     Thürme,
    Die stattlichen Paläste,
    Die feyrlichen Tempel,
    Und diese grosse Erdkugel
     selbst -
    Und alles was sie in sich
     fasst,
    Zerschmelzen,
    Und gleich diesem
     unwesentlichen Schauspiel Nicht die mindeste Spur zurücklassen. 
    »Er zeigt auf das Wort
     ›Tempel‹«, sagte Ben. »Kann das etwas zu
     bedeuten haben?«
    Ich rollte mit den Augen, und
     Sir Henry stöhnte. »Gott, bitte keine Tempel. Oder
     Tempelritter.«
    »Ist nicht zu Haus, der
     arme Kerl«, meldete sich plötzlich eine traurige Stimme hinter
     uns, und wir fuhren erschrocken herum. »Woanders begraben. In
     Stratford haben sie ihn, und in Stratford behalten sie ihn. Dabei gehört
     er von Rechts wegen uns - nationales Kulturgut und so weiter.«
    Vor uns stand ein weiterer
     rot gewandeter Küster. Aus seiner Glatze spross ein trotziges Haarbüschel,
     seine Stirnfalten beschrieben ein großes M, und seine Segelohren
     standen ab wie die Griffe einer Teekanne. Er hatte die Hände auf dem
     Rücken verschränkt und blickte ehrfurchtsvoll zu Shakespeare
     hinauf. »Sie dagegen«, sagte er dann und bedachte uns mit
     einem bösen Blick, »sind hier, obwohl Sie hier nichts zu suchen
     haben. Die Andacht findet im Chorraum statt«, erklärte er und
     wies hinter sich, »wenn ich also bitten darf …«
    Sir Henry ignorierte den
     ausgestreckten Arm des Küsters. »Warum zeigt Shakespeare auf
     das Wort ›Tempel‹?«
    »Tut er das?« Der
     Küster zog die Brauen zusammen. »Das tut er nicht immer.«
    »Wollen Sie etwa sagen,
     der Kerl bewegt sich?«, fragte Sir Henry.
    »Das kann er nicht, Sir«,
     antwortete der Küster, »er ist ja tot. Auch wenn er nicht hier
     tot ist. Wie Jonson sagte: ›Ein Denkmal ohne Grab.‹ Zufälligerweise
     dichte ich selbst. Möchten Sie vielleicht einen oder zwei Verse hören?«
    »O ja«, sagte
     Ben, ohne die Miene zu verziehen.
    »Ganz sicher nicht«,
     zischte Sir Henry, doch der Küster legte bereits los:
    »Als Shakespeare
     entschlief die ganze Welt rief: O Will, warum habt Ihr uns verlassen?«
    »Das Denkmal«,
     beharrte Sir Henry zähneknirschend.
    »Dazu komme ich gleich«,
     sagte der Küster. »O marmornes Grab! O irdener Schoß!«
    »Bewegt es

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