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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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einen Freund: ›Wie tröstlich,
     dass über Shakespeares Leben so wenig bekannt ist. Er gibt ein tolles
     Rätsel auf, und mir ist angst und bange vor dem Tag, da sein
     Geheimnis gelüftet wird.‹ Ich glaube, ich halte es mit
     Dickens.«
    »Und wenn doch etwas
     herauskommt? Meinen Sie, wir werden die Wahrheit je erfahren?«
    Hypnotisierend pendelte die
     Brosche an ihrer Kette hin und her. »Vielleicht kommt eine ganze
     Konstellation von Fakten heraus. Falls die Beweise irgendwo da draußen
     sind, dann sollten sie ans Licht kommen. Ich bin dagegen, Fakten zu
     verstecken oder sich vor ihnen zu verstecken. Aber Fakten sind etwas
     anderes als die Wahrheit, vor allem wenn es um Gefühle und
     Vorstellungskraft geht. Ich glaube nicht, dass Dickens sich im Grab
     umdrehen muss wegen ein oder zwei Tatsachen - oder zweitausend. Das
     Geheimnis um das Genie, das sich so etwas wie ›Romeo und Julias
     ›Hamlet‹ oder ›König Lear‹ ausdenken
     konnte, bleibt bestehen.«
    Plötzlich riss die
     Kette, und die Brosche fiel zu Boden. Wir bückten uns gleichzeitig,
     und Bens Wange streifte mein Gesicht. Bevor ich wusste, was ich tat,
     drehte ich mich zu ihm und küsste ihn. Ich sah die Überraschung
     in seinen Augen, doch er erwiderte den Kuss. Als mir bewusst wurde, was
     wir da taten, setzte ich mich erschrocken auf.
    Ben bückte sich noch
     immer und sah verwirrt zu mir hoch. Langsam hob er die Brosche auf.
    Ich spürte, wie mir die
     Röte in die Wangen stieg. »Tut mir leid.«
    »Mir nicht«,
     sagte er und legte mir mit einem amüsierten Blick die Brosche in die
     Hand. »Ich fand es interessant, von einem Jungen geküsst zu
     werden. Es war das erste Mal für mich.«
    Ich riss die Augen auf. Das
     hatte ich ganz vergessen.
    »Versuch das nächste
     Mal daran zu denken«, sagte er lächelnd.
    Ich nickte, doch innerlich stöhnte
     ich. Interessant? Um alles noch schlimmer zu machen, hatte ich ihm
     versprochen, mich nicht aus seiner Sichtweite zu entfernen. Außerdem
     leuchtete das Sitzgurt-Zeichen. Ich konnte nicht einmal zur Toilette
     gehen. Am liebsten hätte ich mich im Gepäckraum verkrochen und
     in einer Kiste zusammengerollt.
    Ben lehnte sich zurück.
     Im Dunkeln sah ich seine Augen glänzen. »Gute Nacht, Frau
     Professor«, sagte er dann und war nach kurzer Zeit eingeschlafen.
    Ich steckte die Brosche sorgfältig
     an die Innenseite meines Jacketts und lehnte mich zurück, so weit es
     ging. Wenig später bewegte sich Ben, und sein Bein berührte
     meines. Lange saß ich in der abgedunkelten Kabine wach, die von
     rhythmischem Schnarchen erfüllt war, und spürte seine Körperwärme.
     Kurz bevor ich einschlief, hörte ich noch einmal Ros’ Stimme.
     Viele Wege führen zur Wahrheit, sagte sie. Das waren Ophelias Worte,
     dachte ich irritiert. Nicht die von Ros.

 
    30
    In Frankfurt passierten wir
     die Passkontrolle und holten unser Gepäck ab. »Gib mir deinen
     Pass«, sagte Ben, als wir durch den Zoll waren.
    Ich gehorchte. »Und
     jetzt? Gehen wir zu Fuß?«
    »Jetzt frühstücken
     wir erst mal«, sagte er und bahnte sich den Weg durch den Flughafen
     zu einem kleinen, hell erleuchteten Café mit Granittischen, wo er
     in fließendem Deutsch Kaffee und Apfelstrudel bestellte.
    »Wie viele Sprachen
     sprichst du eigentlich?«, fragte ich mit einem Anflug von Neid.
    Er zuckte die Achseln.
     »Ich habe mit Englisch und Spanisch angefangen. Es hat eine Weile
     gedauert, bis ich begriff, dass es zwei verschiedene Sprachen sind. Danach
     sind mir die anderen leichtgefallen. Andere Leute können Musik
     nachspielen, wenn sie sie ein-, zweimal gehört haben.«
    »Es gibt Leute, die
     ›Hänschen klein‹ nachspielen können«, gab
     ich zurück. »Aber niemand spielt Symphonien von Beethoven oder
     Mahler nach dem Gehör.«
    »›Zwei Kaffee
     und einen Apfelstrudel bitte‹ ist wohl eher ›Hänschen
     klein‹ als Mahler. Aber ich schätze, sprachlich und
     geografisch bin ich überall und nirgendwo zu Hause, wie man so schön
     sagt.«
    »Wie ist das passiert?«
    »Das mit den Sprachen
     oder das mit der Geografie?«
    »Beides.«
    Ben lehnte sich lächelnd
     zurück. Mir wurde heiß, als ich mich an den Kuss erinnerte, und
     ich sah weg. »Zum einen hatte ich polyglotte Eltern«, erklärte
     er. »Meine Mutter spricht vier Sprachen. Sie wollte nicht, dass bei
     ihren Kindern die Lernkurve abbrach, wie sie es ausdrückte. Zum
     anderen kann ich nicht still sitzen. In einer Familie von Bankern

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