Die Shakespeare-Morde
einen Freund: ›Wie tröstlich,
dass über Shakespeares Leben so wenig bekannt ist. Er gibt ein tolles
Rätsel auf, und mir ist angst und bange vor dem Tag, da sein
Geheimnis gelüftet wird.‹ Ich glaube, ich halte es mit
Dickens.«
»Und wenn doch etwas
herauskommt? Meinen Sie, wir werden die Wahrheit je erfahren?«
Hypnotisierend pendelte die
Brosche an ihrer Kette hin und her. »Vielleicht kommt eine ganze
Konstellation von Fakten heraus. Falls die Beweise irgendwo da draußen
sind, dann sollten sie ans Licht kommen. Ich bin dagegen, Fakten zu
verstecken oder sich vor ihnen zu verstecken. Aber Fakten sind etwas
anderes als die Wahrheit, vor allem wenn es um Gefühle und
Vorstellungskraft geht. Ich glaube nicht, dass Dickens sich im Grab
umdrehen muss wegen ein oder zwei Tatsachen - oder zweitausend. Das
Geheimnis um das Genie, das sich so etwas wie ›Romeo und Julias
›Hamlet‹ oder ›König Lear‹ ausdenken
konnte, bleibt bestehen.«
Plötzlich riss die
Kette, und die Brosche fiel zu Boden. Wir bückten uns gleichzeitig,
und Bens Wange streifte mein Gesicht. Bevor ich wusste, was ich tat,
drehte ich mich zu ihm und küsste ihn. Ich sah die Überraschung
in seinen Augen, doch er erwiderte den Kuss. Als mir bewusst wurde, was
wir da taten, setzte ich mich erschrocken auf.
Ben bückte sich noch
immer und sah verwirrt zu mir hoch. Langsam hob er die Brosche auf.
Ich spürte, wie mir die
Röte in die Wangen stieg. »Tut mir leid.«
»Mir nicht«,
sagte er und legte mir mit einem amüsierten Blick die Brosche in die
Hand. »Ich fand es interessant, von einem Jungen geküsst zu
werden. Es war das erste Mal für mich.«
Ich riss die Augen auf. Das
hatte ich ganz vergessen.
»Versuch das nächste
Mal daran zu denken«, sagte er lächelnd.
Ich nickte, doch innerlich stöhnte
ich. Interessant? Um alles noch schlimmer zu machen, hatte ich ihm
versprochen, mich nicht aus seiner Sichtweite zu entfernen. Außerdem
leuchtete das Sitzgurt-Zeichen. Ich konnte nicht einmal zur Toilette
gehen. Am liebsten hätte ich mich im Gepäckraum verkrochen und
in einer Kiste zusammengerollt.
Ben lehnte sich zurück.
Im Dunkeln sah ich seine Augen glänzen. »Gute Nacht, Frau
Professor«, sagte er dann und war nach kurzer Zeit eingeschlafen.
Ich steckte die Brosche sorgfältig
an die Innenseite meines Jacketts und lehnte mich zurück, so weit es
ging. Wenig später bewegte sich Ben, und sein Bein berührte
meines. Lange saß ich in der abgedunkelten Kabine wach, die von
rhythmischem Schnarchen erfüllt war, und spürte seine Körperwärme.
Kurz bevor ich einschlief, hörte ich noch einmal Ros’ Stimme.
Viele Wege führen zur Wahrheit, sagte sie. Das waren Ophelias Worte,
dachte ich irritiert. Nicht die von Ros.
30
In Frankfurt passierten wir
die Passkontrolle und holten unser Gepäck ab. »Gib mir deinen
Pass«, sagte Ben, als wir durch den Zoll waren.
Ich gehorchte. »Und
jetzt? Gehen wir zu Fuß?«
»Jetzt frühstücken
wir erst mal«, sagte er und bahnte sich den Weg durch den Flughafen
zu einem kleinen, hell erleuchteten Café mit Granittischen, wo er
in fließendem Deutsch Kaffee und Apfelstrudel bestellte.
»Wie viele Sprachen
sprichst du eigentlich?«, fragte ich mit einem Anflug von Neid.
Er zuckte die Achseln.
»Ich habe mit Englisch und Spanisch angefangen. Es hat eine Weile
gedauert, bis ich begriff, dass es zwei verschiedene Sprachen sind. Danach
sind mir die anderen leichtgefallen. Andere Leute können Musik
nachspielen, wenn sie sie ein-, zweimal gehört haben.«
»Es gibt Leute, die
›Hänschen klein‹ nachspielen können«, gab
ich zurück. »Aber niemand spielt Symphonien von Beethoven oder
Mahler nach dem Gehör.«
»›Zwei Kaffee
und einen Apfelstrudel bitte‹ ist wohl eher ›Hänschen
klein‹ als Mahler. Aber ich schätze, sprachlich und
geografisch bin ich überall und nirgendwo zu Hause, wie man so schön
sagt.«
»Wie ist das passiert?«
»Das mit den Sprachen
oder das mit der Geografie?«
»Beides.«
Ben lehnte sich lächelnd
zurück. Mir wurde heiß, als ich mich an den Kuss erinnerte, und
ich sah weg. »Zum einen hatte ich polyglotte Eltern«, erklärte
er. »Meine Mutter spricht vier Sprachen. Sie wollte nicht, dass bei
ihren Kindern die Lernkurve abbrach, wie sie es ausdrückte. Zum
anderen kann ich nicht still sitzen. In einer Familie von Bankern
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