Die Shakespeare-Morde
seine
eigenen Motive untergeschoben?
»Jemand versucht zu
verhindern, dass das Stück gefunden wird, Athenaide. Was hätte
Sir Henry davon?«
»Er will es nicht
verhindern«, sagte sie. »Er will es haben. Sir Henry will das
Stück mit giftiger Gier. Wahrscheinlich hat er zuerst von Ros davon
gehört, und seitdem ist er besessen von dem Gedanken, die Rolle des
Don Quixote selbst zu spielen. Gäbe es einen herrlicheren
Schwanengesang zum Ende einer Bühnenkarriere, als Shakespeare und
Cervantes in einem zu verkörpern? Er will das Stück, und als Ros
ihm nicht versprechen wollte, mit ihm zu teilen, hat er sie umgebracht.«
»Verlogene Hexe«,
zischte Sir Henry.
Athenaide achtete nicht auf
ihn, sondern konzentrierte sich ganz auf mich. »Aber bei Ihnen
brauchte er Hilfe. Also hat er jemanden angeheuert. Wie Ben Ihnen sagte,
er steht im Sold. Nur eben nicht in Ros’, sondern in Sir Henrys
Sold.«
»Er ist Ros’
Neffe, Athenaide.«
Eine kurze Pause entstand.
»Faszinierend«,
sagte Matthew. »Vor allem, da Ros ein Einzelkind ist.«
Ich sah Ben an in der
Hoffnung, dass er widersprach.
Seine Kiefer zuckten. »Du
musst mir vertrauen.«
»Benjamin Pearl«,
sagte Athenaide, »ist ein Auftragskiller, Katharine. Ein Soldat, könnte
man sagen, wenn er die Ehre verdient hätte. Wenigstens ist er als
solcher ausgezeichnet worden. Er ist Träger des Victoria-Kreuzes -
keine Medaille, die die Queen jeden Tag verteilt.
Wegen seines heldenhaften
Einsatzes in Sierra Leone, wo achtzig Zivilisten gerettet wurden, aber zwölf
Spezialagenten des britischen SAS ums Leben kamen. Seitdem ist allerdings
die Frage aufgekommen, ob Pearl nicht mehr für die Toten als für
die Lebenden verantwortlich zeichnet. Ein kleines Vermögen in
Diamanten war auch im Spiel. Nicht wahr, Mr Pearl?«
Sir Henrys Gesicht war zu
einer wutverzerrten Maske verzogen, doch Bens Blick war leer, starr wie
der eines Reptils. Alles, was ich über ihn wusste, wirbelte
durcheinander und ordnete sich neu. Zusammen hatten sie Ros, Maxine, Dr.
Sanderson und eine nette, unbeteiligte Frau in Wilton House ermordet,
deren einziges »Verbrechen« darin bestanden hatte, ihnen die Tür
zu öffnen. Und sie hatten mich benutzt wie Jäger Spürhunde,
um ihre Beute aufzustöbern.
Ich sah es kommen, den
Bruchteil einer Sekunde bevor es losging. Mit einem Knurren stürzte
sich Sir Henry auf Athenaide. Im gleichen Moment warf Ben den Meißel
nach Matthew und schlug ihm die Pistole aus der Hand. Dann ging er auf
mich los, kalte Wut in seinen Augen.
Athenaides Taschenlampe fiel
zu Boden und erlosch. Finsternis hüllte uns ein, und ich schaffte es,
mich aus Bens Griff zu winden.
»Lauf, Kate«,
rief Matthew, und ich schleuderte meinen Meißel hinter mich in die
Dunkelheit, auf Kniehöhe in Bens Richtung. Ächzend ging er zu
Boden. Ich glitt im Dunkeln an ihm vorbei und lief zurück in das
Kirchenschiff.
Hinter mir hörte ich ein
Handgemenge, und dann das helle Pfeifen von zwei gedämpften Schüssen.
Dann war alles still.
Wen hatten die Kugeln
getroffen?
»Kate!« Es war
Bens Stimme, die durch die dunkle Kirche hallte.
Ich drückte mich ins
Chorgestühl.
»Finden Sie sie«,
befahl er mit abgehackter Stimme.
Waren Athenaide und Matthew
beide tot? Tief in mir erhob sich ein Heulen, doch ich drückte die
Hand auf den Mund.
»Die einzige Tür,
die sich öffnen lässt, ist die, durch die wir gekommen sind«,
keuchte Sir Henry.
Wenn sie das Portal vor mir
erreichten, saß ich in der Falle.
Auf Zehenspitzen schlich ich
durch die Vierung, als ich neben mir eine Bewegung wahrnahm. Ben und Sir
Henry waren hinter mir; von ihnen konnte es keiner sein. Matthew oder
Athenaide? Geräuschlos bewegte ich mich zur Wand.
Athenaide stand hinter einem
geschnitzten Holzschirm, der die Kapelle auf der Südseite der Vierung
abtrennte. Ich zwängte mich zu ihr, und sie drückte meine Hand,
als wir uns hinter dem Wandschirm zusammenkauerten. Wenn Ben und Sir Henry
uns fanden, waren wir verloren. Wenn nicht, hatten wir den Hauch einer
Chance, in unserem Versteck bis zum nächsten Morgen zu überdauern,
bis die ersten Besucher kämen.
Tief geduckt lauschten wir in
die Dunkelheit. Wo war Matthew? War er tot, oder verblutete er gerade?
Verstohlene Schritte betraten die Vierung, dann schlichen sie an der
Kapelle vorbei ins
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