Die Shakespeare-Morde
Irgendwo hinter mir kratzte ein leises Geräusch
an der Stille. Ich spitzte die Ohren. Wir wurden beobachtet. Ich wusste es
so sicher, als hätten die gemeißelten Heiligen und Dämonen
über uns die Augen plötzlich aufgeschlagen.
Langsam stand ich auf und
drehte mich um. Die Dunkelheit war undurchdringlich.
Auf einmal blendete mich ein
gleißendes Licht. Sinclair, dachte ich panisch.
»Katharine«,
sagte eine Stimme. Doch sie gehörte nicht Sinclair. Auch nicht der
Polizei. Athenaide. »Treten Sie vom Grab zurück«, sagte
sie.
Ich zögerte.
»Tu es«, sagte
Ben leise.
Ich trat einen Schritt zur
Seite, aus dem Scheinwerferlicht, und dann sah ich, was er meinte.
Athenaide stand vor dem Chorgestühl und hatte eine Pistole mit einem
seltsam verlängerten Lauf auf mich gerichtet. Eine Pistole mit
Schalldämpfer.
»Weiter.«
Ich ging noch einen Schritt.
»Sie hat nicht, was Sie
wollen«, rief Sir Henry.
»Ich will Katharine«,
sagte Athenaide.
»Nein.« Ben trat
vor.
»Noch eine Bewegung,
und ich schieße, Mr Pearl.«
Er blieb stehen.
»Was wollen Sie von
mir?«, fragte ich und versuchte meiner Stimme einen festen Klang zu
geben.
»Sie vor einem Mörderpaar
retten.«
»Was?«
»Denk nach, Kate«,
sagte eine zweite Stimme aus dem Chorgestühl an der Nordwand.
Matthew. »Wer war da, jedes Mal, wenn jemand ums Leben gekommen ist?
Wer war mit dir im Preston Archive?«
»Ich«, sagte Ben.
»Genau«, sagte
Matthew, und ich hörte die Schärfe in seiner ruhigen Stimme.
»Das waren Sie.«
Sinclair hatte den gleichen
Verdacht geäußert, doch ich hatte ihn ohne weiteren Gedanken
von mir gewiesen. Auch jetzt sträubte ich mich dagegen. »Nein.«
Doch Matthew hakte nach.
»Wo war er, Kate, als Dr. Sanderson starb? Praktisch, dich allein in
der Bibliothek zurückzulassen, nicht wahr?«
»Der Mörder hat
mich angegriffen«, widersprach ich knapp. »Ben hat mich
gerettet.«
»Hat er das? Oder hat
er dich erst angegriffen, um dann den Retter zu spielen?«
Ich versuchte mich zu
erinnern, was am Kapitol passiert war. Eine verwackelte Folge von Schlägen,
Griffen, Schritten - kommenden und fliehenden Schritten.
»Denk nach, Kate«,
sagte Matthew wieder. »Denk an jeden Mord, an jeden Überfall.«
In der Widener-Bibliothek war
mein Verfolger verschwunden, und wenige Augenblicke später war Ben
aufgetaucht. Hätte er es sein können? Er hätte sich um die
Regale schleichen, die dunkle Kleidung ablegen und zwischen den Büchern
verstecken können. Möglich war es.
Doch es war absurd.
In Cedar City hatte er das
Archiv verlassen, um Sandwichs zu holen. War er umgekehrt und hatte Maxine
getötet, direkt nachdem ich gegangen war? Es war möglich. Knapp.
Am Kapitol hatte er mich gerade rechtzeitig unter den Magnolien gefunden,
um meinen Angreifer zu verjagen. Er hatte selbst die Vermutung geäußert,
der Überfall sei inszeniert gewesen. Hätte er Sie töten
wollen, wären Sie tot gewesen, bevor ich dazukam, hatte er gesagt.
Hatte er auch seine Rettung inszeniert, um mein Vertrauen zu gewinnen?
Nein. Er hatte mich gerettet.
Und weiter? Wilton House. In
Wilton House war er die ganze Zeit bei mir gewesen. »Er konnte Mrs
Quigley nicht umgebracht haben«, sagte ich, während ich
verzweifelt versuchte, nicht den Verstand zu verlieren.
»Dann verwette ich
meine Seele«, sagte Athenaide, »dass Sir Henry die Möglichkeit
hatte.«
Ich runzelte die Stirn. Sir
Henry war mit Mrs Quigley wie lange verschwunden? Zehn Minuten? Fünfzehn?
Zwanzig? Lange genug, um sie umzubringen und sich wieder ins Nebenzimmer
zu schleichen, wo er sich selbst die Wunde zufügte und sich zu Boden
fallen ließ.
Ein Mörderpaar, hatte
Athenaide gesagt. Steckten Ben und Sir Henry unter einer Decke? War das möglich?
Wieder spulte ich zum Anfang zurück und
ging die Vorfälle durch. Jedes Mal hatte mich der eine oder der
andere aus der Klemme geholt - hatte mich mit Kleidung, Transportmitteln
und Geld versorgt. Sogar mit Pässen. Ben hatte mich nicht nur beschützt,
er hatte außerdem in zwei Ländern das Gesetz gebrochen.
Zusammen hätten sie
jedes der Opfer töten können.
»Warum?«, fragte
ich. »Warum die anderen? Und nicht mich?«
»Sie brauchen Sie«,
sagte Athenaide.
Genau das hatte Ben über
Athenaide gesagt: Sie brauchte mich, um ›Cardenio‹ zu
finden. Erst dann wäre ich entbehrlich … Hatte er ihr
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