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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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an ihn heran, legte ihm
     den Arm um den Hals und zog ihn hinter einen Grabstein.
    Mit vor Schreck geweiteten
     Augen versuchte sich der Polizist aus Bens Würgegriff zu befreien,
     doch Ben beugte sich vor, zog den Griff enger, und der Mann sackte
     zusammen.   
    Dann legte er ihn auf den
     Boden und blickte zur Kirche. Vor dem Portal hatte sich der Küster
     umgedreht. Ein großer Schlüsselbund hing klimpernd in seiner
     Hand. Einen Moment lang stand er schweigend da und spitzte die Ohren. Dann
     schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder dem Schloss zu.
    »Fesselt ihn«, flüsterte
     Ben. Ohne einen weiteren Blick auf ihn zu werfen, stand er auf und schlich
     im Schatten auf die Kirche zu.
    Der Küster schloss das
     Portal auf und betrat die Kirche. Lautlos folgte ihm Ben. Mehr sahen wir
     nicht. Sir Henry war blass, als er ein Seil aus der Sporttasche nahm und
     es mir reichte. Ich beugte mich über den Polizisten. Er sah aus wie
     tot. In was war ich bloß hineingeraten? 
    Nach ein paar Minuten kam Ben
     zurück. Wir schleppten den Polizisten in die Kirche, und Ben zog die
     Tür hinter uns zu, deren dumpfes Dröhnen sich anhörte wie
     der Donner eines heraufziehenden Gewitters. Er knipste eine kleine
     Taschenlampe an. Der Küster lag bewusstlos auf dem Steinboden. Als
     ich sah, wie professionell er gefesselt und geknebelt war, lief mir ein
     Schauer über den Rücken. Sein Schlüsselbund lag neben ihm.
     An der Wand darüber leuchtete ein kleines grünes Licht; der Küster
     hatte den Alarm ausgeschaltet, bevor Ben ihn ausschaltete.       
    Während ich nach dem
     richtigen Schlüssel suchte, zog Ben die Fesseln des Polizisten enger,
     die ich geknüpft hatte, und knebelte auch ihn. »Jetzt bist du
     dran«, sagte er und reichte mir die Taschenlampe. Ich wandte mich
     von den bewusstlosen Männern ab, die rechts und links neben der Tür
     lagen, und betrat das Kirchenschiff. Ben und Sir Henry folgten mir.
    Außerhalb des Scheins
     der Taschenlampe war es stockfinster. Der Dachstuhl und der Altarraum am
     anderen Ende der Kirche waren unsichtbar. Es roch nach kaltem Stein und
     Tod. Der Grundriss bildete ein Kreuz, wie in den meisten Kirchen. Wir
     passierten die Vierung, über der sich der Kirchturm erhob, und die
     Seitenkapellen, dann erreichten wir den Altarraum. Das Chorgestühl
     rechts und links schien im Schatten zu lauern.
    Ben hielt die Taschenlampe
     nach oben. Ihr Strahl brach sich im Buntglas des östlichen Fensters.
     Darunter schimmerte der goldene Altar wie eine verschwommene Vision von
     Salomos Tempel. Doch es war nicht der Altar, auf den wir es abgesehen
     hatten. Ich lenkte Bens Arm nach links.
    Über uns an der Nordwand
     schwebte Shakespeares Ebenbild wie der Geist über einer Séance;
     er hielt die Feder eher wie ein Buchhalter als ein Poet in der steinernen
     Hand, und die glatte Kuppel über seiner Tonsur verriet mehr über
     sein Alter als über seine Frömmigkeit. Beinahe vier Jahrhunderte
     hatte dieser Blick seine Geheimnisse wohl behütet. Das Grab befand
     sich am Boden darunter, eine rechteckige Steinplatte an dem
     juwelenbesetzten Geländer, das das Volk vom Altarraum fernhielt.
    Wir kletterten über das
     Altargeländer und versammelten uns um den Stein. Er trug eine
     Inschrift. Sir Henry las laut vor, und seine Stimme hallte unter dem Gewölbe.
     
    UM JESU WILLEN, GUTER
     FREUND, LASS AB,
    HOL NICHT DEN EINGESCHLOSS’NEN
     STAUB AUS
    DIESEM GRAB.
    GESEGNET SEI DER MANN, DER
     SCHONET DIESE STEINE,
    UND JENER SEI VERFLUCHT,
     DER RÜHRT AN
    MEIN’ GEBEINE.
     
    Die Verse konnten ›Romeo
     und Julia‹ oder ›Hamlet‹ nicht das Wasser reichen,
     doch hatten sie eine gewisse Kraft, wie sie Kinderreimen oder Zaubersprüchen
     eigen ist. Ein Segen, der in alle Ewigkeit an einen Fluch gebunden war.
    Gab es den Fluch wirklich?
     Ophelia hatte daran geglaubt. Was hatte sie gesagt? Wir sündigten
     gegen Gott und die Menschen. In der dunklen Kirche lief mir ein Schauer
     über den Rücken.
    Wir zogen unsere Regenmäntel
     aus und legten sie um den Grabstein auf den Boden. Ben öffnete die
     Sporttasche und verteilte Meißel und Brechstange, dann gingen wir
     schweigend ans Werk. Wir mussten die flache Steinplatte lösen und
     anheben, ohne dass sie brach.
    Eine Weile war nichts als das
     dumpfe Klopfen von Metall auf Stein zu hören, begleitet von unserem
     leisen, angestrengten Atmen. Ich setzte mich auf die Hacken zurück,
     um meine Hände auszuruhen.

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