Die Shakespeare-Morde
machte ich kehrt und rannte stattdessen hinauf.
Oben versteckte ich mich
wieder zwischen den Regalen. Schritte näherten sich der Treppe unter
mir, dann fiel die Tür zu. Einen kurzen Moment war es still, dann
wurde die Tür kreischend aufgerissen. Leise verschwanden die Schritte
nach unten.
Ich wartete. Vielleicht
durchschaute er meinen Trick, schlich sich wieder herauf und wartete nur
darauf, dass ich mich zeigte. Oder er legte sich am Haupteingang auf die
Lauer. Nein. Ich hörte etwas: das leise Quietschen von Gummisohlen
auf der Treppe. Mein Körper spannte sich, bereit, jederzeit
loszulaufen, doch mehr hörte ich nicht. Selbst die Regale schienen
den Atem anzuhalten.
Nach einer langen Zeit kam
ich vorsichtig heraus. Die hohen Fenster an der Innenseite des Westflügels
blickten auf denselben Lesesaal wie Ros’ Büro. Schräg
gegenüber konnte ich die langen Reihen mit den Fenstern der
Arbeitszimmer sehen. Als ich mich gerade abwenden und gehen wollte,
entdeckte ich einen roten Lichtstrahl, der in einem der Fenster
aufflackerte. Ich sah näher hin. Ein Stockwerk nach unten, drei
Fenster nach rechts. Ros’ Arbeitszimmer.
Er war zurückgekehrt.
Auf Zehenspitzen ging ich die
Treppe hinunter, durchquerte den inneren Korridor und schlüpfte
zwischen die Regale. Vielleicht konnte ich ihn nicht davon abhalten, Ros’
Sachen durchzugehen - nicht hier und jetzt, allein im Dunkeln.
Aber ich könnte versuchen herauszufinden, wer er war.
Von der anderen Seite
erreichte ich den Gang, der zu Ros’ Büro führte. Als ich
durch die Regale spähte, sah ich den schwachen roten Lichtschein
hinter Ros’ Tür. Er war noch dort.
Ich nahm den Zettel aus dem
Chambers-Band und steckte ihn in die Hosentasche. Einen Gang weiter
stellte ich das Buch in eine Lücke im unteren Fach und merkte mir die
Stelle - sechs Bücher vom Rand. Im Notfall könnte ich morgen früh
wiederkommen. Die Chance, dass jemand den Chambers hier fand, unter
Millionen von Büchern, war gering, und in der Zwischenzeit war er
hier am sichersten.
Dann glitt ich um die Ecke
und ging auf Zehenspitzen den Gang hinunter. Als Ros’ Tür ins
Blickfeld kam, blieb ich stehen. Nichts. Ich ging einen Schritt weiter,
und plötzlich wurde die Stille von einer schrillenden Sirene
zerrissen. Bevor ich weglaufen konnte, sprang eine dunkle Gestalt aus der
Tür, stürzte sich auf mich und drehte mir den Arm auf den Rücken.
Kaum hörbar über das Heulen der Sirene drang ein raues Flüstern
an mein Ohr: »Schlichte Kate, die lust’ge Kate, oder auch die
böse Kate.«
Mein Name! Er wusste, wie ich
hieß! Ich wand mich unter seinem Griff, versuchte, sein Gesicht zu
erkennen, doch er riss so fest an meinem Arm, dass ich vor Schmerz nach
Luft schnappte.
Dann lachte er kalt. »Aber
wie eine andere Shakespeare-Bewohnerin fragte: ›Was ist schon ein
Name?‹ Ros hat ihren geändert. In Hamlet den Alten.«
Ein eiskalter Schauer lief
mir über den Rücken. Ich hatte recht gehabt. Mit neuer Kraft
versuchte ich mich zu befreien. Etwas Metallisches blitzte auf, und dann
spürte ich die schmale kalte Klinge eines Messers an meiner Kehle.
»Vielleicht sollten wir auch deinen Namen ändern.« Ich fühlte
seinen feuchten Atem im Nacken. »Lauf, Kate«, sagte er spöttisch.
Und plötzlich, als hätte er sich im Schrillen der Dunkelheit in
Luft aufgelöst, war er verschwunden.
Entsetzt rannte ich in den
äußeren Korridor mit den Lesekabinen. Ich sah mich um, doch es
gab keinen Fluchtweg und nur einen Ort, an dem ich mich verstecken konnte.
Ich duckte mich unter einen der Tische. Wo war er? Was war passiert?
Anscheinend hatte er sich mit einer Art Bewegungsmelder
abgesichert. Was bedeutete, dass er mich erwartet hatte.
Der Alarm verstummte. Wenn er
ihn abgestellt hatte, konnte er nicht weit sein.
Ich hörte leise Schritte
durchs Magazin. Er war auf dem Weg hierher. Geh weg, betete ich inbrünstig.
Bitte geh weg.
Doch er kam mit langsamen,
zielstrebigen Schritten in meine Richtung. An den Lesekabinen hielt er
inne. Wahrscheinlich sah er unter jedem einzelnen Tisch nach. Er wusste,
dass ich hier war.
Als er an dem Tisch vor
meinem stehen blieb, machte ich mich bereit loszusprinten. Er hatte ein
Messer, und ich konnte höchstens den Tisch gegen ihn stoßen.
Vielleicht konnte ich ihn damit aus dem Gleichgewicht bringen und einen
Vorsprung herausholen.
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