Die Shakespeare-Morde
Andenkens.
Und das Ganze war für meine Augen bestimmt.
Ein dumpfer Schlag riss mich
aus meinen Gedanken. Im gleichen Moment packte Ben meinen Arm und riss
mich zurück zwischen die Magazinregale. Das Buch war mir aus der Hand
geglitten. Ich bückte mich, um es aufzuheben, als Ben sich auf mich
warf. Im nächsten Moment zerriss ein Blitz die Dunkelheit, und mit
einem ohrenbetäubenden Klirren zerbarsten die Scheiben der Türen
auf dem Korridor. Eine dumpfe Explosion ließ das ganze Gebäude
erbeben.
Dann verebbte der Lärm.
Ben kam auf die Füße. Der Marmorboden fühlte sich seltsam
kühl unter meiner Wange an. Ich hob den Kopf. Ein paar Meter entfernt
von mir lag der Chambers-Band mit dem Rücken nach oben aufgeschlagen
auf dem Boden. Eine Scherbe hatte sich in den Einband gebohrt wie ein
verhextes Juwel. Ich robbte mich hin und blätterte die Seiten durch.
Ros’ Brief war noch da.
Ben sagte etwas, aber er
klang weit weg. Ich hörte ihn wie durch einen Nebel und konnte nicht
verstehen, was er sagte. Verwirrt sah ich auf. Mit drei Schritten war er
bei mir. Er tastete meinen Rücken ab; dann drehte er mich um und sah
mich von Kopf bis Fuß an. »Ihnen ist nichts passiert. Bleiben
Sie hier.«
Er lief zu Ros’ Büro
zurück und verschwand in der Tür.
Gegen seine Anordnung folgte
ich ihm und spähte hinein. Ich sah Bens Silhouette im Feuerschein, während
er meine Tasche aus den Trümmern von Mauerwerk und Stahl befreite.
Ros’ Fenster waren zersprungen, und das ganze Zimmer war mit
Scherben übersät. Draußen sah ich ein Loch in der gegenüberliegenden
Wand des Hofs. Im Raum dahinter tanzten wütende orange Flammen.
Überall war Rauch. Papierschnitzel schwebten über dem Hof wie
Schneegestöber.
Ben stemmte einen Stahlträger
hoch, dann packte er meine Tasche und kam zurück. »War es das,
oder haben Sie noch irgendwo Ihre Fahne gehisst?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na gut. Gehen wir.«
Ich stand wie angewurzelt da.
»Kommen Sie.«
Unsanft schob er mich in Richtung Treppe. Er ging voraus, zog mich eine
Treppe hinunter, dann noch eine. Er hatte eine schwarze halbautomatische
Pistole gezogen. In der Ferne heulten Sirenen. Der zuckende Feuerschein
tauchte den Hof in unheimliches Licht und erleuchtete uns den Weg, bis wir
im Erdgeschoss waren. Ab da wurde es stockdunkel. Stufe für Stufe
tasteten wir uns in vollkommener Finsternis hinab. Das Gebäude über
uns begann zu ächzen. Ich versuchte mir nicht vorzustellen, wie
über unseren Köpfen dreieinhalb Millionen Bücher aus den
Regalen fielen. Wir passierten Ebene A, dann Ebene B. »Wir sind da«,
flüsterte ich, als wir Ebene C erreichten.
Im gleichen Moment wurde mir
mein Fehler bewusst. Anders als die oberen Stockwerke, wo breite Korridore
die ganze Länge des Gebäudes verbanden, waren die Untergeschosse
in Ost und West aufgeteilt. Auf unserer Ebene führte von der
Westseite, wo wir standen, nur ein einziges enges Schlupfloch zur Ostseite
hinüber, wo der Tunnel zur Lamont Library begann. Und schlimmer noch,
der Durchgang war von Regalen verstellt. Vor fünf Jahren hatte ich
mich in den Verliesen der Bibliothek nicht einmal bei Tageslicht
ausgekannt. Wir suchten die Nadel im Heuhaufen, und das im Stockdunkeln.
Ben drückte mir eine
Taschenlampe in die Hand. Mit einem Klicken flackerte an der Wand gegenüber
der Lichtkegel auf. Schweigend griff er nach meiner Hand und richtete den
Schein zu Boden, ein paar Schritte vor unsere Füße.
Zögernd trat ich auf den mittleren Korridor. Vor uns reihten sich
bedrohlich hohe Bücherregale aneinander, und als ich die Taschenlampe
über ihre Fächer wandern ließ, wirkte es fast, als würden
sie sich argwöhnisch zu uns herunterbeugen. Sobald der Lichtkegel an
ihnen vorüber war, schienen sie sich zu bewegen und sich zu neuen Gängen
und Ecken zu formieren. Wo war die Stelle, nach der ich suchte? Der erste
Gang, den ich ausprobierte, führte in eine Sackgasse, auf eine Wand
mit Büchern über Magellan zu. Der zweite endete bei der
Eroberung der Inka. Ich schlich zurück und blieb nachdenklich im
Mittelgang stehen.
»Tempo«, murmelte
Ben. »Ein bisschen Tempo wäre gut.«
»Glauben Sie mir, hier
unten ist Besonnenheit gefragt.«
Damals hatte ich das
Schlupfloch durch Zufall entdeckt, als ich auf der Suche nach einem Buch
gewesen war. Was hatte ich gesucht?
Ros. Ros hatte mich
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