Die Shakespeare-Morde
genau dorthin unterwegs.«
Ich biss mir auf die Lippe.
»Es gibt noch einen Ausgang in der Pusey Library. Die Bibliothek
nebenan.«
»Okay.«
»Aber es ist direkt um
die Ecke vom Haupteingang der Widener.«
Er sah mich verzweifelt an.
»Herrgott, wir sind hier in Harvard. Gibt es denn keine Geheimgänge
und verborgenen Türen?«
»Einen«, sagte
ich zögernd. »Zumindest gab es mal einen. Einen Tunnel, der
unter dem Campus zur Lamont Library führt.« Als ich Doktorandin
hier war, war der Tunnel für alle Universitätsmitglieder geöffnet,
und in den regnerischen Monaten zwischen Neujahr und Ostern ging es dort
unten zu wie auf einer Autobahn. Doch in meinem zweiten Jahr hatte ein
unheimlicher Schlitzer angefangen, in den unteren Magazinen eine Spur
zerstörter Bücher zu hinterlassen. Er schnitt mit einem Messer
komplizierte Muster in die Seiten. Eine Zeit lang hatte man sich über
ihn lustig gemacht. Minotaurus nannten sie ihn, das Monster im Labyrinth.
Die Universitätsleitung reagierte mit dem nachdrücklichen Rat an
die Studenten, den Irrgarten der Magazine nur zu zweit oder in größeren
Gruppen zu betreten. Tatsächlich kam jegliche Recherche in der
Widener-Bibliothek zum Stillstand, weil sich keiner mehr hineintraute.
Dann, als die Krokusse die Köpfe
aus der Schneedecke reckten, schwärmten Zivilbeamte in den Magazinen
aus, und eines Morgens erreichte uns die Nachricht, dass ein kleiner
seltsamer Mann mit Schlangenaugen festgenommen worden sei - und dass der
Lamont-Tunnel bis auf Weiteres geschlossen sein würde. Unter den
Studenten ging das Gerücht, es wäre kein Polizist, sondern ein
Priester gewesen, der den Schlitzer erwischt hatte - und dass in einem
Kampf der Titanen der ganze Tunnel mit Blut besudelt worden sei, das sich
nicht abwaschen ließ. Natürlich ließ man sich in Harvard
nicht dazu herab, solchen Aberglauben direkt zu kommentieren. Stattdessen
wurde der Tunnel von jedem Grundriss gelöscht, jede Erwähnung
des Vorfalls in der Presse zensiert und über Belegschaft und Lehrkörper
ein Schweigegebot verhängt. Nach vier Jahren war die Existenz des
Tunnels weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden.
»Brillant«, sagte
Ben. »Genau da wollen wir hin.«
»Wenn es ihn noch gibt«,
sagte ich unbehaglich.
»Sicher«, sagte
er. »Es muss ihn noch geben. Haben Sie alles, womit Sie hergekommen
sind, Frau Professor?«
Statt einer Antwort ging ich
in die Regalreihe, wo ich den Chambers-Band versteckt hatte, nahm das Buch
an mich und schob den Zettel aus meiner Hosentasche wieder zwischen die
Seiten.
»Sonst noch etwas?«
»Ich hatte nichts -«
Mitten im Satz brach ich ab. Meine Tasche. Ich hatte meine Tasche in Ros’
Büro stehen lassen, mitsamt der Brieftasche und meinen Ausweisen
… Kein Wunder, dass der Mörder meinen Namen kannte. Ich hatte
ihm meine Visitenkarte hinterlassen. Ich spürte, dass ich rot wurde.
»Ich habe meine Tasche in Ros’ Büro vergessen. Außerdem
bin ich keine Frau Professor«, setzte ich nach. »Hatte ich nie
vor.«
»Sie machen es einem
wohl nicht leicht, nicht wahr?« Er nahm mich am Arm und zog mich
durch den Gang. Auf dem Korridor vor den Büros spähte er nach
rechts, dann nach links. »Da drüben?«, flüsterte er
und zeigte auf die offene Tür.
Ich riss mich von ihm los und
marschierte auf die Tür zu. Erst als ich drin war, blieb ich stehen.
Das Büro war völlig
auseinandergenommen worden. Der Sessel lag umgedreht in einer Ecke, die
Polster waren aufgeschlitzt. Bücher türmten sich in der Mitte
des Zimmers. Der Computerbildschirm war eingeschlagen. Dahinter waren Ros’
Landkarten von der Wand gerissen. Trotz des Chaos war der Schreibtisch bis
auf den kaputten Bildschirm mehr oder weniger unberührt: Die Türkisohrringe
lagen noch neben der Tastatur, und die Lexika standen in Reih und Glied an
der Wand. Nur eine Lücke war zu sehen. Ich hatte Ros’
Faksimile-Ausgabe der Folio zurückgestellt; jetzt war sie fort. Er
hatte gewusst, wonach er suchte, und er hatte es gefunden. Der Rest des
Durcheinanders war blinder Vandalismus.
Meine Tasche lag ganz oben
auf dem Bücherberg, in einem unmöglichen Winkel. Der unberührte
Tisch, die Tasche so sorgfältig platziert, all das sprach eine
deutliche Sprache. Es war kein blinder Vandalismus, sondern eine bewusste
Schändung - die brutale, mutwillige Zerstörung ihres
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