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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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genau dorthin unterwegs.«
    Ich biss mir auf die Lippe.
     »Es gibt noch einen Ausgang in der Pusey Library. Die Bibliothek
     nebenan.«
    »Okay.«
    »Aber es ist direkt um
     die Ecke vom Haupteingang der Widener.«
    Er sah mich verzweifelt an.
     »Herrgott, wir sind hier in Harvard. Gibt es denn keine Geheimgänge
     und verborgenen Türen?«
    »Einen«, sagte
     ich zögernd. »Zumindest gab es mal einen. Einen Tunnel, der
     unter dem Campus zur Lamont Library führt.« Als ich Doktorandin
     hier war, war der Tunnel für alle Universitätsmitglieder geöffnet,
     und in den regnerischen Monaten zwischen Neujahr und Ostern ging es dort
     unten zu wie auf einer Autobahn. Doch in meinem zweiten Jahr hatte ein
     unheimlicher Schlitzer angefangen, in den unteren Magazinen eine Spur
     zerstörter Bücher zu hinterlassen. Er schnitt mit einem Messer
     komplizierte Muster in die Seiten. Eine Zeit lang hatte man sich über
     ihn lustig gemacht. Minotaurus nannten sie ihn, das Monster im Labyrinth.
     Die Universitätsleitung reagierte mit dem nachdrücklichen Rat an
     die Studenten, den Irrgarten der Magazine nur zu zweit oder in größeren
     Gruppen zu betreten. Tatsächlich kam jegliche Recherche in der
     Widener-Bibliothek zum Stillstand, weil sich keiner mehr hineintraute.
    Dann, als die Krokusse die Köpfe
     aus der Schneedecke reckten, schwärmten Zivilbeamte in den Magazinen
     aus, und eines Morgens erreichte uns die Nachricht, dass ein kleiner
     seltsamer Mann mit Schlangenaugen festgenommen worden sei - und dass der
     Lamont-Tunnel bis auf Weiteres geschlossen sein würde. Unter den
     Studenten ging das Gerücht, es wäre kein Polizist, sondern ein
     Priester gewesen, der den Schlitzer erwischt hatte - und dass in einem
     Kampf der Titanen der ganze Tunnel mit Blut besudelt worden sei, das sich
     nicht abwaschen ließ. Natürlich ließ man sich in Harvard
     nicht dazu herab, solchen Aberglauben direkt zu kommentieren. Stattdessen
     wurde der Tunnel von jedem Grundriss gelöscht, jede Erwähnung
     des Vorfalls in der Presse zensiert und über Belegschaft und Lehrkörper
     ein Schweigegebot verhängt. Nach vier Jahren war die Existenz des
     Tunnels weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden.
    »Brillant«, sagte
     Ben. »Genau da wollen wir hin.«
    »Wenn es ihn noch gibt«,
     sagte ich unbehaglich.
    »Sicher«, sagte
     er. »Es muss ihn noch geben. Haben Sie alles, womit Sie hergekommen
     sind, Frau Professor?«
    Statt einer Antwort ging ich
     in die Regalreihe, wo ich den Chambers-Band versteckt hatte, nahm das Buch
     an mich und schob den Zettel aus meiner Hosentasche wieder zwischen die
     Seiten.
    »Sonst noch etwas?«
    »Ich hatte nichts -«
     Mitten im Satz brach ich ab. Meine Tasche. Ich hatte meine Tasche in Ros’
     Büro stehen lassen, mitsamt der Brieftasche und meinen Ausweisen
     … Kein Wunder, dass der Mörder meinen Namen kannte. Ich hatte
     ihm meine Visitenkarte hinterlassen. Ich spürte, dass ich rot wurde.
     »Ich habe meine Tasche in Ros’ Büro vergessen. Außerdem
     bin ich keine Frau Professor«, setzte ich nach. »Hatte ich nie
     vor.« 
    »Sie machen es einem
     wohl nicht leicht, nicht wahr?« Er nahm mich am Arm und zog mich
     durch den Gang. Auf dem Korridor vor den Büros spähte er nach
     rechts, dann nach links. »Da drüben?«, flüsterte er
     und zeigte auf die offene Tür.
    Ich riss mich von ihm los und
     marschierte auf die Tür zu. Erst als ich drin war, blieb ich stehen.
    Das Büro war völlig
     auseinandergenommen worden. Der Sessel lag umgedreht in einer Ecke, die
     Polster waren aufgeschlitzt. Bücher türmten sich in der Mitte
     des Zimmers. Der Computerbildschirm war eingeschlagen. Dahinter waren Ros’
     Landkarten von der Wand gerissen. Trotz des Chaos war der Schreibtisch bis
     auf den kaputten Bildschirm mehr oder weniger unberührt: Die Türkisohrringe
     lagen noch neben der Tastatur, und die Lexika standen in Reih und Glied an
     der Wand. Nur eine Lücke war zu sehen. Ich hatte Ros’
     Faksimile-Ausgabe der Folio zurückgestellt; jetzt war sie fort. Er
     hatte gewusst, wonach er suchte, und er hatte es gefunden. Der Rest des
     Durcheinanders war blinder Vandalismus.
    Meine Tasche lag ganz oben
     auf dem Bücherberg, in einem unmöglichen Winkel. Der unberührte
     Tisch, die Tasche so sorgfältig platziert, all das sprach eine
     deutliche Sprache. Es war kein blinder Vandalismus, sondern eine bewusste
     Schändung - die brutale, mutwillige Zerstörung ihres

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