Die Shakespeare-Morde
Immerhin besser, als wie eine Ratte in der Falle
sitzen zu bleiben.
Er machte einen Schritt, dann
noch einen - und dann ging er an meinem Tisch vorbei und marschierte zum
Ende des Korridors, ohne noch einmal stehen zu bleiben. Er verschwand in
Richtung Haupteingang. Schließlich hörte ich das leise
Quietschen einer der Brandschutztüren zum Treppenhaus.
Ich atmete auf. Zögernd
kroch ich unter dem Lesetisch hervor und stand auf. Der Tisch war leer
gewesen, als ich mich versteckt hatte, doch jetzt lag ein einzelnes Blatt
darauf, ein Lichtfleck auf der dunklen Platte. Ich hob es auf. Ein Rand
war rau und gezackt, anscheinend aus einem Buch gerissen. Der Druck war
alt, das Papier dick, samtig und schwer.
Ich drehte mich zum
Mondlicht, das von draußen hereinfiel. Ich hielt eine Seite aus
einer First Folio Edition in der Hand. Ein Original - kein Faksimile, wie
ich es auf Ros’ Schreibtisch gefunden hatte. Und hier hatte jemand
etwas an den Rand gekritzelt. Am rechten Seitenrand befand sich die
Zeichnung einer Hand. Eine Faust, deren Zeigefinger bei ausgestelltem
Daumen nach links auf eine bestimmte Zeile wies. Die Geste, mit der kleine
Kinder eine Pistole nachmachen. Doch dies war ein altes Symbol, eine Gedächtnisstütze,
wie man sie vor langer Zeit benutzte - es war der Textmarker des
Mittelalters und der Renaissance. Ich sah näher hin. Das Symbol war
alt, doch die Zeichnung war frisch, nicht mit dem dünnen Bogen eines Federkiels gemalt, sondern mit der
fleckigen Tinte eines Kugelschreibers.
Als ich die Zeile las, wurde
mir übel. Es war kein Vers aus dem Stück. Es war eine
Regieanweisung. Nicht ›Hamlet‹. Eine Zeile aus ›Titus
Andronicus‹, der grausamste Moment in Shakespeares grausamstem
Drama. Rohe Gewalt, so brutal, dass ich beim Lesen das Gefühl hatte,
jemand würde mir ein Stück aus den Eingeweiden reißen.
Nicht einmal Shakespeare hatte die Szene in Worte fassen wollen. Auftritt
der geschändeten Lavinia, ihr sind die Hände abgehauen und die
Zunge ausgeschnitten.
Was ist schon ein Name?,
hatte mein Verfolger geflüstert. Vielleicht sollten wir auch deinen
ändern.
In Lavinia?
»Kate«, sagte
eine Männerstimme hinter mir. Ich schrie, doch er drückte mir
die Hand auf den Mund.
11
Seien Sie still und hören
Sie zu«, sagte eine leise Stimme mit britischem Akzent. »Ros
schickt mich.«
Ich riss mich los, doch er
packte mich wieder, drehte mich um und hielt mich fest. Er hatte dunkle
Locken und eine lange, gerade Nase. Sein Körper fühlte sich hart
wie Marmor an, nur dass er warm war.
»Ros ist tot«,
sagte ich.
»Weil sie nicht auf
mich gehört hat.«
Wieder wollte ich zurückweichen,
doch er hielt mich fest. Sein Blick bohrte sich tief in meine Augen.
»Wenn du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den
sie dir weist.«
Ros’ Worte. »Wer
sind Sie?«
»Ben Pearl«,
sagte er knapp. »Verzeihen Sie meine Manieren, aber ich versuche
gerade, Sie lebend hier rauszukriegen. Angesichts der Tatsache, dass ich
einen anderen Weg hier raus suche als Ihr Verfolger, welche Wahl haben
Sie?« Er sprach mit der lässigen Arroganz der britischen
Oberschicht. Er trug ein graues T-Shirt, seine Arme waren nackt, und ich
konnte sein Gesicht sehen. Mein Angreifer war von Kopf bis Fuß
schwarz gekleidet gewesen, und er hatte einen amerikanischen Akzent.
»Warum sollte ich Ihnen
vertrauen?«
»Sie war meine Tante,
Kate.«
»Sie sind Brite.«
»Manche Menschen überqueren
den Atlantik. Sie war die Schwester meiner Mutter und hat mich zu Ihrem
Schutz angestellt.«
Er hatte dunkles Haar und grüne
Augen, genau wie Ros. »Lassen Sie mich los«, sagte ich
trotzig.
Doch sein Griff wurde fester.
»Still.« Er sah zum Fenster. Ich folgte seinem Blick. Im
dunstigen Lichtkreis einer Laterne bewegte sich die Dunkelheit wie aufgewühltes
Wasser oder Nebel.
»Ist er das?«, flüsterte
ich.
Er zog mich vom Fenster zurück
auf den Flur. »Nein, es sei denn er hat zwölf Klone dabei«,
flüsterte er, während wir in den Schatten zwischen den Regalen
glitten. »Ich schätze, das war der Sicherheitsdienst, der auf
den Stromausfall reagierte. Der Haupteingang scheidet aus. Was haben wir für
Alternativen?«
»Es gibt eine Hintertür,
genau unter uns. Fünf Treppen weiter unten.«
Er schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich ist der Sicherheitsdienst
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