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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Immerhin besser, als wie eine Ratte in der Falle
     sitzen zu bleiben.
    Er machte einen Schritt, dann
     noch einen - und dann ging er an meinem Tisch vorbei und marschierte zum
     Ende des Korridors, ohne noch einmal stehen zu bleiben. Er verschwand in
     Richtung Haupteingang. Schließlich hörte ich das leise
     Quietschen einer der Brandschutztüren zum Treppenhaus.
    Ich atmete auf. Zögernd
     kroch ich unter dem Lesetisch hervor und stand auf. Der Tisch war leer
     gewesen, als ich mich versteckt hatte, doch jetzt lag ein einzelnes Blatt
     darauf, ein Lichtfleck auf der dunklen Platte. Ich hob es auf. Ein Rand
     war rau und gezackt, anscheinend aus einem Buch gerissen. Der Druck war
     alt, das Papier dick, samtig und schwer.
    Ich drehte mich zum
     Mondlicht, das von draußen hereinfiel. Ich hielt eine Seite aus
     einer First Folio Edition in der Hand. Ein Original - kein Faksimile, wie
     ich es auf Ros’ Schreibtisch gefunden hatte. Und hier hatte jemand
     etwas an den Rand gekritzelt. Am rechten Seitenrand befand sich die
     Zeichnung einer Hand. Eine Faust, deren Zeigefinger bei ausgestelltem
     Daumen nach links auf eine bestimmte Zeile wies. Die Geste, mit der kleine
     Kinder eine Pistole nachmachen. Doch dies war ein altes Symbol, eine Gedächtnisstütze,
     wie man sie vor langer Zeit benutzte - es war der Textmarker des
     Mittelalters und der Renaissance. Ich sah näher hin. Das Symbol war
     alt, doch die Zeichnung war frisch, nicht mit dem dünnen Bogen eines Federkiels gemalt, sondern mit der
     fleckigen Tinte eines Kugelschreibers.
    Als ich die Zeile las, wurde
     mir übel. Es war kein Vers aus dem Stück. Es war eine
     Regieanweisung. Nicht ›Hamlet‹. Eine Zeile aus ›Titus
     Andronicus‹, der grausamste Moment in Shakespeares grausamstem
     Drama. Rohe Gewalt, so brutal, dass ich beim Lesen das Gefühl hatte,
     jemand würde mir ein Stück aus den Eingeweiden reißen.
     Nicht einmal Shakespeare hatte die Szene in Worte fassen wollen. Auftritt
     der geschändeten Lavinia, ihr sind die Hände abgehauen und die
     Zunge ausgeschnitten.
    Was ist schon ein Name?,
     hatte mein Verfolger geflüstert. Vielleicht sollten wir auch deinen
     ändern.
    In Lavinia?
    »Kate«, sagte
     eine Männerstimme hinter mir. Ich schrie, doch er drückte mir
     die Hand auf den Mund.

 
    11
    Seien Sie still und hören
     Sie zu«, sagte eine leise Stimme mit britischem Akzent. »Ros
     schickt mich.«
    Ich riss mich los, doch er
     packte mich wieder, drehte mich um und hielt mich fest. Er hatte dunkle
     Locken und eine lange, gerade Nase. Sein Körper fühlte sich hart
     wie Marmor an, nur dass er warm war.
    »Ros ist tot«,
     sagte ich.
    »Weil sie nicht auf
     mich gehört hat.«
    Wieder wollte ich zurückweichen,
     doch er hielt mich fest. Sein Blick bohrte sich tief in meine Augen.
     »Wenn du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den
     sie dir weist.«
    Ros’ Worte. »Wer
     sind Sie?«
    »Ben Pearl«,
     sagte er knapp. »Verzeihen Sie meine Manieren, aber ich versuche
     gerade, Sie lebend hier rauszukriegen. Angesichts der Tatsache, dass ich
     einen anderen Weg hier raus suche als Ihr Verfolger, welche Wahl haben
     Sie?« Er sprach mit der lässigen Arroganz der britischen
     Oberschicht. Er trug ein graues T-Shirt, seine Arme waren nackt, und ich
     konnte sein Gesicht sehen. Mein Angreifer war von Kopf bis Fuß
     schwarz gekleidet gewesen, und er hatte einen amerikanischen Akzent.
    »Warum sollte ich Ihnen
     vertrauen?«
    »Sie war meine Tante,
     Kate.«
    »Sie sind Brite.«
    »Manche Menschen überqueren
     den Atlantik. Sie war die Schwester meiner Mutter und hat mich zu Ihrem
     Schutz angestellt.«          
    Er hatte dunkles Haar und grüne
     Augen, genau wie Ros. »Lassen Sie mich los«, sagte ich
     trotzig.
    Doch sein Griff wurde fester.
     »Still.« Er sah zum Fenster. Ich folgte seinem Blick. Im
     dunstigen Lichtkreis einer Laterne bewegte sich die Dunkelheit wie aufgewühltes
     Wasser oder Nebel.
    »Ist er das?«, flüsterte
     ich.
    Er zog mich vom Fenster zurück
     auf den Flur. »Nein, es sei denn er hat zwölf Klone dabei«,
     flüsterte er, während wir in den Schatten zwischen den Regalen
     glitten. »Ich schätze, das war der Sicherheitsdienst, der auf
     den Stromausfall reagierte. Der Haupteingang scheidet aus. Was haben wir für
     Alternativen?«
    »Es gibt eine Hintertür,
     genau unter uns. Fünf Treppen weiter unten.«
    Er schüttelte den Kopf.
     »Wahrscheinlich ist der Sicherheitsdienst

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