Die Shakespeare-Morde
eine Welle der Sehnsucht nach Ros in mir auf.
Irgendwann gingen die Lichter
auf dem Flur endgültig aus, bis auf etwa alle zehn Meter eine
schwache Glühbirne. Bleierne Schläfrigkeit legte sich über
das Gebäude. Immer wieder rutschte mir das Kinn auf die Brust. Ich
schüttelte mich, um wach zu bleiben, doch wieder sank mein Kopf, und
meine Lider wurden schwer.
Plötzlich zuckte ich
zusammen. Irgendetwas hatte mich aufgeschreckt. Aber was? Hinter der
Scheibe der Bürotür war nichts als samtschwarze Dunkelheit. Ich
kroch zur Tür, um zu lauschen. Nichts.
Ich knipste die Taschenlampe
an und ging an den Schreibtisch. Dann stellte ich die Folio an ihren Platz
zurück, nahm die Papiere unter der Shakespeare-Büste, schob sie
zusammen und steckte sie ein. Als Nächstes waren die Regale an der
Reihe. »Tut mir leid«, sagte ich -zu den Büchern? Dem Büro?
Zu Ros? Doch ich straffte die Schultern und machte mich an die Arbeit.
Systematisch, wie es Ros
gefallen hätte, ging ich die Fächer durch und nahm Stoß für
Stoß der vorderen Bücher heraus, um mit der Taschenlampe in das
Dunkel dahinter zu leuchten. Ihre Interessen waren, gelinde gesagt, vielfältig.
Ich fand eine kleine Abteilung zu Cervantes und ›Don Quixote‹,
eine zu Delia Bacon, einer Frauenrechtlerin aus dem 19. Jahrhundert, deren
Shakespeare-Besessenheit sie zu Genialität und anschließend in
den Wahnsinn getrieben hatte. Vor langer Zeit war Delia Bacon mein Terrain
gewesen. Was hatte Ros an Delia interessiert? Ein Gähnen unterdrückend
suchte ich weiter. Eine größere Abteilung über Shakespeare
im amerikanischen Westen, anscheinend noch von Ros’ letztem Buch.
Insgesamt wirkte ihre Lektüre wie eine Collage, die sie willkürlich
aus den Magazinen zusammengestellt hatte. Nichts von dem, was ich fand,
ließ auf ein zusammenhängendes neues Projekt schließen.
Und wichtiger, von der ›Elisabethanischen Bühne‹ fehlte
jede Spur.
Zwanzig Minuten später,
auf den Knien und der Verzweiflung nahe, entdeckte ich, was ich suchte,
tief im untersten Fach vor dem Fenster. Vier Bücher in verschossener
roter Leinenbindung. Die blassen Goldbuchstaben auf den Buchrücken
verkündeten knapp: ›Die Elisabethanische Bühne‹.
Chambers.
Ich bückte mich. In
einem der vier Bände steckte ein Zettel wie ein kleines Fähnchen.
Ich nahm das Buch heraus, lehnte mich an den Sessel und schlug die
markierte Seite auf: 488. »Dramen und Dramatiker«, lautete die
Kopfzeile - der Titel eines langen Kapitels, in dem alle Dramatiker der
Ära einzeln aufgelistet waren, jede bekannte gedruckte Ausgabe und
jede Manuskriptkopie eines jeden Theaterstücks, das in der englischen
Renaissance geschrieben worden war. Eine schwindelerregende
Rechercheleistung.
Seite 488 begann mitten im
Abschnitt zu ›Othello‹. Gefolgt von ›Macbeth‹,
›König Lear‹, ›Antonius und Kleopatra‹…
und schließlich dem ›Sturm‹ und ›Heinrich VIII.‹
auf der gegenüberliegenden Seite. Shakespeares späte Stücke.
Seine jakobäischen Magna opera. Ich richtete den blassgelben Schein
der Lampe auf den Seitenrand. Welches der Stücke meinte sie?
Doch auch diesmal fand ich
keine einzige Notiz. Ich richtete mich auf. Die Spur konnte nicht hier
enden. Das durfte einfach nicht sein.
Ich nahm Ros’ Karte aus
der Tasche und las noch einmal, was sie geschrieben hatte. Dann drehte ich
sie um und berührte das ausgestanzte Loch. Nach all der Mühe,
die sich Ros gemacht hatte, um die Karteikarten zu retten, war es höchst
unwahrscheinlich, dass sie eine davon als Notizzettel missbraucht hätte.
Egal was ich suchen sollte, es musste etwas mit den Büchern zu tun
haben.
Nicht mit den Büchern,
schoss es mir durch den Kopf, und ich setzte mich auf. Eben nicht mit den
Büchern. Ich war daran gewöhnt, die Karten als Verweise zu
lesen. Doch Ros wollte, dass ich mir die Karte selbst ansah. Ich stand auf
und ging an den Karteischrank, in dem sie die Karten aufbewahrte, einen
der alten Kataloge der Widener-Bibliothek. Ich legte das Buch auf den
Schrank. Dann überflog ich mit der Taschenlampe die ordentlich von
Ros beschrifteten Schubladen.
»Cecil-Charles II.«
Ich zog die Schublade auf und blätterte zu »Chambers, E. K.«.
Der erste Titel war ›Artus von Britannien‹ Gefolgt von
›Frühe englische Dichtung‹ und ›Das englische
Volkstheater‹. Zu weit. Ich
Weitere Kostenlose Bücher