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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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eine Welle der Sehnsucht nach Ros in mir auf.
    Irgendwann gingen die Lichter
     auf dem Flur endgültig aus, bis auf etwa alle zehn Meter eine
     schwache Glühbirne. Bleierne Schläfrigkeit legte sich über
     das Gebäude. Immer wieder rutschte mir das Kinn auf die Brust. Ich
     schüttelte mich, um wach zu bleiben, doch wieder sank mein Kopf, und
     meine Lider wurden schwer.
    Plötzlich zuckte ich
     zusammen. Irgendetwas hatte mich aufgeschreckt. Aber was? Hinter der
     Scheibe der Bürotür war nichts als samtschwarze Dunkelheit. Ich
     kroch zur Tür, um zu lauschen. Nichts.
    Ich knipste die Taschenlampe
     an und ging an den Schreibtisch. Dann stellte ich die Folio an ihren Platz
     zurück, nahm die Papiere unter der Shakespeare-Büste, schob sie
     zusammen und steckte sie ein. Als Nächstes waren die Regale an der
     Reihe. »Tut mir leid«, sagte ich -zu den Büchern? Dem Büro?
     Zu Ros? Doch ich straffte die Schultern und machte mich an die Arbeit.
    Systematisch, wie es Ros
     gefallen hätte, ging ich die Fächer durch und nahm Stoß für
     Stoß der vorderen Bücher heraus, um mit der Taschenlampe in das
     Dunkel dahinter zu leuchten. Ihre Interessen waren, gelinde gesagt, vielfältig.
     Ich fand eine kleine Abteilung zu Cervantes und ›Don Quixote‹,
     eine zu Delia Bacon, einer Frauenrechtlerin aus dem 19. Jahrhundert, deren
     Shakespeare-Besessenheit sie zu Genialität und anschließend in
     den Wahnsinn getrieben hatte. Vor langer Zeit war Delia Bacon mein Terrain
     gewesen. Was hatte Ros an Delia interessiert? Ein Gähnen unterdrückend
     suchte ich weiter. Eine größere Abteilung über Shakespeare
     im amerikanischen Westen, anscheinend noch von Ros’ letztem Buch.
     Insgesamt wirkte ihre Lektüre wie eine Collage, die sie willkürlich
     aus den Magazinen zusammengestellt hatte. Nichts von dem, was ich fand,
     ließ auf ein zusammenhängendes neues Projekt schließen.
     Und wichtiger, von der ›Elisabethanischen Bühne‹ fehlte
     jede Spur.
    Zwanzig Minuten später,
     auf den Knien und der Verzweiflung nahe, entdeckte ich, was ich suchte,
     tief im untersten Fach vor dem Fenster. Vier Bücher in verschossener
     roter Leinenbindung. Die blassen Goldbuchstaben auf den Buchrücken
     verkündeten knapp: ›Die Elisabethanische Bühne‹.
     Chambers.
    Ich bückte mich. In
     einem der vier Bände steckte ein Zettel wie ein kleines Fähnchen.
     Ich nahm das Buch heraus, lehnte mich an den Sessel und schlug die
     markierte Seite auf: 488. »Dramen und Dramatiker«, lautete die
     Kopfzeile - der Titel eines langen Kapitels, in dem alle Dramatiker der
     Ära einzeln aufgelistet waren, jede bekannte gedruckte Ausgabe und
     jede Manuskriptkopie eines jeden Theaterstücks, das in der englischen
     Renaissance geschrieben worden war. Eine schwindelerregende
     Rechercheleistung.
    Seite 488 begann mitten im
     Abschnitt zu ›Othello‹. Gefolgt von ›Macbeth‹,
     ›König Lear‹, ›Antonius und Kleopatra‹…
     und schließlich dem ›Sturm‹ und ›Heinrich VIII.‹
     auf der gegenüberliegenden Seite. Shakespeares späte Stücke.
     Seine jakobäischen Magna opera. Ich richtete den blassgelben Schein
     der Lampe auf den Seitenrand. Welches der Stücke meinte sie?
    Doch auch diesmal fand ich
     keine einzige Notiz. Ich richtete mich auf. Die Spur konnte nicht hier
     enden. Das durfte einfach nicht sein.
    Ich nahm Ros’ Karte aus
     der Tasche und las noch einmal, was sie geschrieben hatte. Dann drehte ich
     sie um und berührte das ausgestanzte Loch. Nach all der Mühe,
     die sich Ros gemacht hatte, um die Karteikarten zu retten, war es höchst
     unwahrscheinlich, dass sie eine davon als Notizzettel missbraucht hätte.
     Egal was ich suchen sollte, es musste etwas mit den Büchern zu tun
     haben.
    Nicht mit den Büchern,
     schoss es mir durch den Kopf, und ich setzte mich auf. Eben nicht mit den
     Büchern. Ich war daran gewöhnt, die Karten als Verweise zu
     lesen. Doch Ros wollte, dass ich mir die Karte selbst ansah. Ich stand auf
     und ging an den Karteischrank, in dem sie die Karten aufbewahrte, einen
     der alten Kataloge der Widener-Bibliothek. Ich legte das Buch auf den
     Schrank. Dann überflog ich mit der Taschenlampe die ordentlich von
     Ros beschrifteten Schubladen.
    »Cecil-Charles II.«
     Ich zog die Schublade auf und blätterte zu »Chambers, E. K.«.
     Der erste Titel war ›Artus von Britannien‹ Gefolgt von
     ›Frühe englische Dichtung‹ und ›Das englische
     Volkstheater‹. Zu weit. Ich

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