Die Shakespeare-Morde
hatten die Fenster auf den
verödeten Innenhof gezeigt, der nur den Vögeln zugänglich
war und dem Abfall, den der Wind hineintrug. Jetzt blickte ich auf einen
hell erleuchteten Lesesaal. Langsam erinnerte ich mich wieder - es war
einer der Glanzpunkte der Renovierung: Man hatte den Innenhof um das
Mausoleum mit einem Glasdach versehen und das Brachland darunter zu zwei
luxuriösen Lesesälen umgebaut.
Wenn ich in der Mitte des Büros
stand, konnte mich jeder, der heraufblickte, sehen. Fluchend trat ich
hinter den Schreibtisch zurück. Ich stellte die Tasche ab und setzte
mich in Ros’ Stuhl, um nachzudenken.
Falls jemand heraufsah, würde
es nicht weiter auffallen, wenn ich am Schreibtisch saß und las.
Wahrscheinlich könnte ich sogar den Computer benutzen, ohne Verdacht
zu erregen. Keiner würde zweimal darüber nachdenken, wenn eine
Assistentin im Büro einer Professorin arbeitete. Vor allem bei Ros,
die nicht viel von Computern hielt. Die Entwürfe für ihre Bücher
und Artikel schrieb sie noch mit der Hand und gab sie dann an ihre
Mitarbeiter weiter. Solange nichts von ihrem Tod bekannt war, konnte ich
getrost an ihrem Computer sitzen.
Doch ich musste ihre Regale
durchsuchen, und da lag das größere Problem. Exzentrisch, wie
Ros war, standen ihre Bücher in zwei Reihen in den Regalen. Und während
die meisten Leute, die ihre Bücher zweireihig stellten, die häufig
benutzten Bände vorn hatten, war bei Ros genau das Gegenteil der
Fall. Sie mochte es nicht, wenn Außenstehende ihre unausgegorenen
Gedanken sahen, wie sie es ausdrückte. Um sich gegen neugierige
Blicke zu schützen, hatte sie in ihren Regalen ein Bollwerk aus den
Veröffentlichungen von Kollegen und Freunden und den jüngsten
Werken der Shakespeare-Forschung errichtet.
Auf den ersten Blick gab es
nichts, das einen Hinweis auf Ros’ unvorhersehbare Gedankengänge
lieferte. Ich seufzte. Was ich suchte, war irgendwo hinter all den anderen
Büchern versteckt. Um ›Die Elisabethanische Bühne‹
zu finden, würde ich jedes Buch einzeln aus dem Regal ziehen müssen,
was gelinde gesagt verdächtig wirkte, wenn jemand heraufsah, und außerdem
so viel Zeit in Anspruch nahm, dass die Wahrscheinlichkeit, gesehen zu
werden, hoch war.
In einem Becher neben dem
Computer steckte eine Taschenlampe zwischen den Bleistiften und Kulis. Ich
nahm sie an mich. Um zehn Uhr würde die Bibliothek schließen.
Bis elf würden auch die Mitarbeiter und Hausmeister gegangen sein -
um zwölf würde alles still sein. Ab da hätte ich sechs oder
sieben Stunden, in denen ich unbehelligt suchen könnte - bis die
Mitarbeiter am nächsten Morgen wiederkämen, um die Pforten um
acht zu öffnen. Ich lächelte Mrs Woolf an, die mich mit großen
traurigen Augen ansah. Was bei helllichtem Tag nicht zu bewerkstelligen
war, musste eben bei Dunkelheit geschehen. Ich musste mich nur in der
Bibliothek einschließen lassen. An Ros’ Bildschirm lehnte eine
moderne Faksimile-Ausgabe der First Folio Edition. Ich griff nach dem
Band, nahm meine Tasche und verließ ihr Büro.
Draußen setzte ich mich
in eine der Lesekabinen und schlug Ros’ Ausgabe von Shakespeares
gesammelten Werken auf. Während der langen Wartezeit ging ich jede
Seite durch, ohne eine einzige Randbemerkung zu finden.
Um halb zehn kam endlich der
Mann mit dem Megafon durch die Gänge. »Die Ausleihe schließt
in fünfzehn Minuten. In fünfzehn Minuten schließt die
Ausleihe.« Um Viertel vor zehn flackerten die Lichter, und die
wenigen verbliebenen Bibliotheksbenutzer brachen auf. Ich wartete, bis ich
den Mann mit dem Megafon zwei Stockwerke unter mir hörte. Schließlich
stand ich auf und streckte meine steifen Glieder. In London war es fast
drei Uhr morgens, doch ich hatte noch Stunden Arbeit vor mir, bevor ich
schlafen konnte. Ich warf einen Blick in den Gang. In diesem Teil der
Bibliothek war nicht viel Betrieb gewesen. Jetzt war er leer.
Ich klappte das Buch zu und
schlich zurück zu Ros’ Büro. Der Schlüssel hakte ein
wenig. Dann öffnete ich die Tür einen Spalt und schlüpfte
hinein. Der Lesesaal unter den Fenstern lag verlassen da; die
Bibliothekarin hatte ihren Posten verlassen. Geduckt stellte ich die
Tasche ab, dann setzte ich mich auf den Boden. Ich nahm mein Telefon und
schaltete es aus. Als ich den leiser werdenden Geräuschen lauschte,
stieg plötzlich
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