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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Wer würde auf eine bloße Ahnung hin in die gut
     bewachten Schatzkammern des Globe und der Widener-Bibliothek einbrechen
     und Feuer legen, um seine Spuren zu verwischen?
    So ungern ich es zugab,
     wahrscheinlich wusste der Mörder sogar besser Bescheid als ich. Ich
     hatte keine einzige konkrete Spur, was das jakobäische Magnum opus
     anging. 
    Dafür hatte ich einen
     Brief, in dem es um ›Cardenio‹ ging. Jedenfalls lag er in
     der Houghton-Bibliothek.
    Verdammt, ich war so schnell
     weggelaufen, dass ich sogar Chambers’ ›Elisabethanische Bühne‹
     liegen gelassen hatte. Inständig hoffte ich, Ben würde daran
     denken, das Buch mitzunehmen.
    In der Zwischenzeit sah ich
     mich rastlos im Laden um und spähte durch die Schaufenster auf die
     Straße. Wo blieb er bloß? Wieso brauchte er so lange?
    Ben war kein
     Geisteswissenschaftler. Hatte er verstanden, worum es beim Abschreiben
     ging? Dass jeder Schreibfehler, jedes Satzzeichen wichtig war? Ich
     brauchte Granvilles Worte, natürlich, aber ich brauchte auch seine
     Eigenheiten und Fehler. Es waren genau die kleinen, leicht übersehbaren
     Unstimmigkeiten, anhand deren der Wissenschaftler die Geschichte und die
     Gewohnheiten des Schriftstellers studierte.
    Ich seufzte. Bis Ben
     auftauchte, hatte ich genau drei konkrete Hinweise - die Namen Jeremy
     Granville und Francis Child und ›Don Quixote‹ in der
     englischen Übersetzung. Wenn ein englisches Stück, das in einer
     englischen Übersetzung steckte, »nicht lange nach seiner
     Entstehung« verschwunden war, lag die Vermutung nahe, dass es
     irgendwo in England verschwunden war. Versteckt und vergessen hinter einem
     Stein im Kamin, eingemauert in einem Turmzimmer oder Verlies oder in einer
     Kiste vergraben, zu Füßen eines Findlings am Rand eines
     einsamen Moors. Granvilles Rechtschreibung, glaubte ich mich zu erinnern,
     war britisch.
    Allerdings war da die
     Tatsache, dass er sich an Professor Child gewandt hatte. Falls Granville
     in England war, oder irgendwo in Europa, wäre es nicht nur leichter
     und schneller gewesen, sich an einen britischen Professor zu wenden,
     sondern geradewegs unnatürlich, einen Brief an Child nach Übersee
     zu schicken. Umso mehr, wenn Granville Brite war. Also, folgerte ich,
     hatte er seine Entdeckung in der Neuen Welt gemacht.
    Ich dachte fieberhaft nach.
     Ganz sicher enthielt der Brief noch andere Hinweise. Aber diese wären
     leiser, weniger direkt. Ich hatte ihn nur zweimal gelesen, und das
     ziemlich schnell. Kaum mehr als überflogen.
    Ich brauchte den Brief. Und
     wo blieb Ben?
    Am Ende des
     Shakespeare-Regals blieb ich stehen. Etwa auf Hüfthöhe stand ein
     dickes Taschenbuch, das unter seinem eigenen Gewicht zusammensackte. Eine
     Faksimile-Ausgabe der First Folio Edition. Vom gleichen Verlag wie die in
     Ros’ Büro - die dann verschwunden war. Genau wie die Folios aus
     dem Globe und der Widener-Bibliothek.
    Ich zog das Buch aus dem Fach
     und blätterte durch die Seiten. Die Ränder waren sauber.
    »Schon wieder das jakobäische
     Magnum opus?«
    Ich zuckte zusammen. Als ich
     mich umdrehte, stand Ben mit einem breiten Grinsen vor mir, den
     Chambers-Band und meinen gelben Block unter den Arm geklemmt.
    »Der Brief«,
     sagte ich. »Konnten Sie ihn abschreiben?«
    Er reichte mir den Block. Ich
     schlug ihn auf.
    Das Blatt war leer.

 
    15
    Als ich ihn wieder ansah,
     verwandelte sich meine Enttäuschung in Wut. »Sie haben gesagt -«
    »Gehen Sie nicht gleich
     auf die Palme.« Ben blätterte die gelben Seiten des Notizblocks
     durch, bis ein loses Blatt herausfiel. Ich fing es auf.
    Das Blatt war weiß,
     beschrieben mit krakeliger Schrift in verblasster blauer Tinte. Ich
     brauchte einen Moment, bis ich begriff, was ich in der Hand hielt. »Aber
     das ist ja das Original.«
    Er grinste. »Ich habe
     es ausgeliehen.«
    »Sind Sie verrückt?«,
     flüsterte ich schrill. »Houghton ist keine Leihbibliothek.«
     Harvard war streng, was die Bibliotheksordnung anging. Eines Nachts, etwa
     zehn Jahre vor dem Unabhängigkeitskrieg, als das Kollegium nur eine
     kleine Bibliothek besaß und jegliches Ausleihen streng verboten war,
     hatte sich ein Funke von einem ungeschnittenen Docht oder platzenden
     Scheit im Kamin - genau wusste es keiner -gelöst und war auf ein Stück
     Papier oder einen Vorhang oder Teppich gefallen, der sofort Feuer fing.
     Was man wusste, war, dass die tobenden Winterwinde aus Nordost die Flammen
     bald zu einem

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