Die Shakespeare-Morde
Wer würde auf eine bloße Ahnung hin in die gut
bewachten Schatzkammern des Globe und der Widener-Bibliothek einbrechen
und Feuer legen, um seine Spuren zu verwischen?
So ungern ich es zugab,
wahrscheinlich wusste der Mörder sogar besser Bescheid als ich. Ich
hatte keine einzige konkrete Spur, was das jakobäische Magnum opus
anging.
Dafür hatte ich einen
Brief, in dem es um ›Cardenio‹ ging. Jedenfalls lag er in
der Houghton-Bibliothek.
Verdammt, ich war so schnell
weggelaufen, dass ich sogar Chambers’ ›Elisabethanische Bühne‹
liegen gelassen hatte. Inständig hoffte ich, Ben würde daran
denken, das Buch mitzunehmen.
In der Zwischenzeit sah ich
mich rastlos im Laden um und spähte durch die Schaufenster auf die
Straße. Wo blieb er bloß? Wieso brauchte er so lange?
Ben war kein
Geisteswissenschaftler. Hatte er verstanden, worum es beim Abschreiben
ging? Dass jeder Schreibfehler, jedes Satzzeichen wichtig war? Ich
brauchte Granvilles Worte, natürlich, aber ich brauchte auch seine
Eigenheiten und Fehler. Es waren genau die kleinen, leicht übersehbaren
Unstimmigkeiten, anhand deren der Wissenschaftler die Geschichte und die
Gewohnheiten des Schriftstellers studierte.
Ich seufzte. Bis Ben
auftauchte, hatte ich genau drei konkrete Hinweise - die Namen Jeremy
Granville und Francis Child und ›Don Quixote‹ in der
englischen Übersetzung. Wenn ein englisches Stück, das in einer
englischen Übersetzung steckte, »nicht lange nach seiner
Entstehung« verschwunden war, lag die Vermutung nahe, dass es
irgendwo in England verschwunden war. Versteckt und vergessen hinter einem
Stein im Kamin, eingemauert in einem Turmzimmer oder Verlies oder in einer
Kiste vergraben, zu Füßen eines Findlings am Rand eines
einsamen Moors. Granvilles Rechtschreibung, glaubte ich mich zu erinnern,
war britisch.
Allerdings war da die
Tatsache, dass er sich an Professor Child gewandt hatte. Falls Granville
in England war, oder irgendwo in Europa, wäre es nicht nur leichter
und schneller gewesen, sich an einen britischen Professor zu wenden,
sondern geradewegs unnatürlich, einen Brief an Child nach Übersee
zu schicken. Umso mehr, wenn Granville Brite war. Also, folgerte ich,
hatte er seine Entdeckung in der Neuen Welt gemacht.
Ich dachte fieberhaft nach.
Ganz sicher enthielt der Brief noch andere Hinweise. Aber diese wären
leiser, weniger direkt. Ich hatte ihn nur zweimal gelesen, und das
ziemlich schnell. Kaum mehr als überflogen.
Ich brauchte den Brief. Und
wo blieb Ben?
Am Ende des
Shakespeare-Regals blieb ich stehen. Etwa auf Hüfthöhe stand ein
dickes Taschenbuch, das unter seinem eigenen Gewicht zusammensackte. Eine
Faksimile-Ausgabe der First Folio Edition. Vom gleichen Verlag wie die in
Ros’ Büro - die dann verschwunden war. Genau wie die Folios aus
dem Globe und der Widener-Bibliothek.
Ich zog das Buch aus dem Fach
und blätterte durch die Seiten. Die Ränder waren sauber.
»Schon wieder das jakobäische
Magnum opus?«
Ich zuckte zusammen. Als ich
mich umdrehte, stand Ben mit einem breiten Grinsen vor mir, den
Chambers-Band und meinen gelben Block unter den Arm geklemmt.
»Der Brief«,
sagte ich. »Konnten Sie ihn abschreiben?«
Er reichte mir den Block. Ich
schlug ihn auf.
Das Blatt war leer.
15
Als ich ihn wieder ansah,
verwandelte sich meine Enttäuschung in Wut. »Sie haben gesagt -«
»Gehen Sie nicht gleich
auf die Palme.« Ben blätterte die gelben Seiten des Notizblocks
durch, bis ein loses Blatt herausfiel. Ich fing es auf.
Das Blatt war weiß,
beschrieben mit krakeliger Schrift in verblasster blauer Tinte. Ich
brauchte einen Moment, bis ich begriff, was ich in der Hand hielt. »Aber
das ist ja das Original.«
Er grinste. »Ich habe
es ausgeliehen.«
»Sind Sie verrückt?«,
flüsterte ich schrill. »Houghton ist keine Leihbibliothek.«
Harvard war streng, was die Bibliotheksordnung anging. Eines Nachts, etwa
zehn Jahre vor dem Unabhängigkeitskrieg, als das Kollegium nur eine
kleine Bibliothek besaß und jegliches Ausleihen streng verboten war,
hatte sich ein Funke von einem ungeschnittenen Docht oder platzenden
Scheit im Kamin - genau wusste es keiner -gelöst und war auf ein Stück
Papier oder einen Vorhang oder Teppich gefallen, der sofort Feuer fing.
Was man wusste, war, dass die tobenden Winterwinde aus Nordost die Flammen
bald zu einem
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