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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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mächtigen Brand geschürt hatten, der ungehindert
     in der Bibliothek wütete, bis der Sturm abflaute und zum Abschied mit
     einer Ladung nassen Schnees das Feuer löschte.          
    Im blauen Licht des eisigen
     Morgens hatte Reverend Edward Holyoke, der Präsident des Kollegiums,
     im Mantel dagestanden, die Hände auf dem Rücken verschränkt,
     und mit Hiobsgeduld über das Unglück nachgedacht: Der Herr hat’s
     gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt. Wie
     es die Legende will, kam ein junger Student durch den rußgeschwärzten
     Schnee gestapft und wollte den alten Mann trösten, indem er ihm ein
     Buch reichte, das er am Abend vorher aus der Bibliothek geschmuggelt
     hatte, um die Nacht über zu büffeln. Ein großer Glücksfall,
     denn nach dem Brand war es der einzige überlebende Band der Sammlung,
     die John Harvard ein Jahrhundert zuvor dem Kollegium zusammen mit seinem
     Namen vermacht hatte.
    Reverend Holyoke aber empfand
     keinerlei Verpflichtung, dem Studenten die gleiche Geduld
     entgegenzubringen, die ihm die himmlischen Feuer abverlangten, und so
     akzeptierte er die Rückgabe des Buchs, dankte dem jungen Mann und
     verwies ihn wegen Diebstahls der Universität.
    »Soll ich ihn wieder
     zurückbringen?«, fragte Ben.
    Ich funkelte ihn an, dann
     nahm ich ihm den Brief ab und vertiefte mich in die gestochene
     Handschrift. Plötzlich traten Wendungen hervor, wie mit Feuer
     geschrieben. Neuweltliche Interpretation … ja, ich lag richtig.
     Nordamerika. Wahrscheinlich die Vereinigten Staaten. An diesem rauhen Ende
     der Civilisation … Draußen im Westen, dachte ich und biss mir
     auf die Lippe. Das war nicht sehr hilfreich: Der amerikanische Westen war
     riesig.
    Auf handfeste Hinweise
     abgeklopft, zeigten sich Granvilles Formulierungen verhalten, ja, geradezu
     bewusst verdunkelnd. Und doch, wenn Ros sich durch das Puzzle kämpfen
     konnte, konnte ich das auch.
    Einer der Knaben. Für
     einen Spieler. Hier oben in den Lagern. Wäre er ein Cowboy gewesen, hätte
     er nicht eher von »Prärie«, »Trecks« und
     »Baracken« gesprochen?
    Was für Lager? Feldlager
     fielen mir ein, doch Granvilles Unterschrift zeigte keinen militärischen
     Rang. Auch erwähnte er keine Offiziere, Befehle, Waffen, Feinde oder
     Kämpfe. Der Brief klang nicht nach Feldpost.
    Lager. Ich schloss die Augen
     und sah eine Zeltstadt vor mir, umgeben von Pappelwäldern. Hacken und
     Schaufeln. Gruben und Stollen. Minen. Ich schlug die Augen wieder auf.
     »Er war draußen im Westen«, sagte ich. »In den
     Minenlagern.«
    Aber was für Minen? Der
     frühe Goldrausch oder die späten Silberminen? Kalifornien?
     Colorado? Arizona? Alaska? Ich griff nach dem Brief. Da stand es, gleich
     am Anfang. Nicht alles gleißt, was Gold ist, hatte Granville
     geschrieben. »Gold«, sagte ich und deutete auf die Zeile.
    »Sie glauben, er war
     Goldgräber?«
    »Ich glaube, er hat
     nach Gold gesucht, aber etwas anderes gefunden. Er hat das alte Sprichwort
     umgedreht. ›Alles ist nicht Gold, was gleißt‹, heißt
     es im ›Kaufmann von Venedigs Er schreibt es hier ganz beiläufig,
     vielleicht nicht einmal bewusst. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig
     ist, dass Granville Goldsucher war und dass er seinen Shakespeare kannte.«
    »Sind Sie sicher?«,
     fragte Ben. »Scheint mir eine ziemlich hochtrabende Schreibe für
     einen alten Goldgräber.«
    »Nicht alle waren
     hinterwäldlerische Analphabeten«, entgegnete ich. »Immerhin
     hatte er einen Kumpel, der in Harvard studiert hat. Zumindest bei
     Professor Child. Vielleicht hatte Granville einen ähnlichen
     Bildungsstand. Aber selbst den Analphabeten im alten Westen war
     Shakespeare vertraut - seine Stücke waren so populär wie das
     Kino heute. Es war die Sprache, die alle verstanden. So ähnlich wie
     ›Hasta la vista, Baby‹ - nur dass die Bergleute stattdessen
     über ihren Lagerfeuern ›Romeo und Julia‹ oder ›Julius
     Cäsar‹ aufsagten, und zwar ganz. Viele Cowboys haben sich
     selbst das Lesen beigebracht, indem sie Zeile für Zeile Shakespeares
     gesammelte Werke durchgingen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat man
     die größten Schauspieler der Zeit ums Kap Hoorn herum nach
     Kalifornien verschifft und weiter mit Planwagen in die Berge gebracht,
     damit sie während des großen Goldrauschs von 1849 in den
     Minenlagern den ›Hamlet‹ gaben. Wenn sie gut waren, warfen
     die Goldgräber Nuggets und säckeweise

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