Die Shakespeare-Morde
mächtigen Brand geschürt hatten, der ungehindert
in der Bibliothek wütete, bis der Sturm abflaute und zum Abschied mit
einer Ladung nassen Schnees das Feuer löschte.
Im blauen Licht des eisigen
Morgens hatte Reverend Edward Holyoke, der Präsident des Kollegiums,
im Mantel dagestanden, die Hände auf dem Rücken verschränkt,
und mit Hiobsgeduld über das Unglück nachgedacht: Der Herr hat’s
gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt. Wie
es die Legende will, kam ein junger Student durch den rußgeschwärzten
Schnee gestapft und wollte den alten Mann trösten, indem er ihm ein
Buch reichte, das er am Abend vorher aus der Bibliothek geschmuggelt
hatte, um die Nacht über zu büffeln. Ein großer Glücksfall,
denn nach dem Brand war es der einzige überlebende Band der Sammlung,
die John Harvard ein Jahrhundert zuvor dem Kollegium zusammen mit seinem
Namen vermacht hatte.
Reverend Holyoke aber empfand
keinerlei Verpflichtung, dem Studenten die gleiche Geduld
entgegenzubringen, die ihm die himmlischen Feuer abverlangten, und so
akzeptierte er die Rückgabe des Buchs, dankte dem jungen Mann und
verwies ihn wegen Diebstahls der Universität.
»Soll ich ihn wieder
zurückbringen?«, fragte Ben.
Ich funkelte ihn an, dann
nahm ich ihm den Brief ab und vertiefte mich in die gestochene
Handschrift. Plötzlich traten Wendungen hervor, wie mit Feuer
geschrieben. Neuweltliche Interpretation … ja, ich lag richtig.
Nordamerika. Wahrscheinlich die Vereinigten Staaten. An diesem rauhen Ende
der Civilisation … Draußen im Westen, dachte ich und biss mir
auf die Lippe. Das war nicht sehr hilfreich: Der amerikanische Westen war
riesig.
Auf handfeste Hinweise
abgeklopft, zeigten sich Granvilles Formulierungen verhalten, ja, geradezu
bewusst verdunkelnd. Und doch, wenn Ros sich durch das Puzzle kämpfen
konnte, konnte ich das auch.
Einer der Knaben. Für
einen Spieler. Hier oben in den Lagern. Wäre er ein Cowboy gewesen, hätte
er nicht eher von »Prärie«, »Trecks« und
»Baracken« gesprochen?
Was für Lager? Feldlager
fielen mir ein, doch Granvilles Unterschrift zeigte keinen militärischen
Rang. Auch erwähnte er keine Offiziere, Befehle, Waffen, Feinde oder
Kämpfe. Der Brief klang nicht nach Feldpost.
Lager. Ich schloss die Augen
und sah eine Zeltstadt vor mir, umgeben von Pappelwäldern. Hacken und
Schaufeln. Gruben und Stollen. Minen. Ich schlug die Augen wieder auf.
»Er war draußen im Westen«, sagte ich. »In den
Minenlagern.«
Aber was für Minen? Der
frühe Goldrausch oder die späten Silberminen? Kalifornien?
Colorado? Arizona? Alaska? Ich griff nach dem Brief. Da stand es, gleich
am Anfang. Nicht alles gleißt, was Gold ist, hatte Granville
geschrieben. »Gold«, sagte ich und deutete auf die Zeile.
»Sie glauben, er war
Goldgräber?«
»Ich glaube, er hat
nach Gold gesucht, aber etwas anderes gefunden. Er hat das alte Sprichwort
umgedreht. ›Alles ist nicht Gold, was gleißt‹, heißt
es im ›Kaufmann von Venedigs Er schreibt es hier ganz beiläufig,
vielleicht nicht einmal bewusst. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig
ist, dass Granville Goldsucher war und dass er seinen Shakespeare kannte.«
»Sind Sie sicher?«,
fragte Ben. »Scheint mir eine ziemlich hochtrabende Schreibe für
einen alten Goldgräber.«
»Nicht alle waren
hinterwäldlerische Analphabeten«, entgegnete ich. »Immerhin
hatte er einen Kumpel, der in Harvard studiert hat. Zumindest bei
Professor Child. Vielleicht hatte Granville einen ähnlichen
Bildungsstand. Aber selbst den Analphabeten im alten Westen war
Shakespeare vertraut - seine Stücke waren so populär wie das
Kino heute. Es war die Sprache, die alle verstanden. So ähnlich wie
›Hasta la vista, Baby‹ - nur dass die Bergleute stattdessen
über ihren Lagerfeuern ›Romeo und Julia‹ oder ›Julius
Cäsar‹ aufsagten, und zwar ganz. Viele Cowboys haben sich
selbst das Lesen beigebracht, indem sie Zeile für Zeile Shakespeares
gesammelte Werke durchgingen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat man
die größten Schauspieler der Zeit ums Kap Hoorn herum nach
Kalifornien verschifft und weiter mit Planwagen in die Berge gebracht,
damit sie während des großen Goldrauschs von 1849 in den
Minenlagern den ›Hamlet‹ gaben. Wenn sie gut waren, warfen
die Goldgräber Nuggets und säckeweise
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