Die Shakespeare-Morde
starrte.
Inzwischen waren mehrere
Monate vergangen.
Durch die Lücke im
Vorhang sah sie, wie Will sich bekreuzigte, und eine zarte Röte
überzog die weiße Haut ihres Dekolletes. Gestern, als sie durch
Shakespeares Kammer wanderte, war sie durch Zufall auf ein Gedicht gestoßen,
und bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie die erste Zeile gelesen. Zwei
Geister hab’ ich trost- und qualenreich. Sie war zurückgezuckt,
als hätte sie etwas gebissen. Sie mochte es nicht, ungefragt seine
Worte zu lesen. Es kam ihr schändlich vor.
Und so hätte sie
wahrscheinlich nicht weitergelesen, hätte er sie nicht so lange
warten lassen. Doch die Worte nagten und zerrten an ihr. Natürlich
war sein geplagtes »ich« er selbst, doch auf sie traf es
ebenso zu. Als er immer noch nicht kam, las sie:
Zwei Geister hab’
ich trost- und qualenreich,
Die mich verlocken stets
im Widerstreite,
Ein blonder Jüngling
steht mir engelgleich,
Ein dunkles Weib als böser
Geist zur Seite.
Feuerröte trieb ihr in
die Wangen. Das Gedicht handelte von ihr, doch es war nicht für sie
bestimmt. Qualenreich? Böser Geist? So schätzte er sie ein?
Sie las weiter.
Die Arge lockt, zur Hölle
mich zu bringen,
Den bessern Genius fort
von meinem Pfad,
Will meinen Heiligen zum
Teufel dingen,
Dem buhlend sie mit
falschen Reizen naht.
Sie hatte alles angezettelt,
schalt sie sich, diesen Aufruhr von Eifersucht und Verwirrung. Doch was
sie nicht gewollt hatte, war, dass sie sich in ihrem eigenen Netz verfing.
Sie hatte nicht gewollt, dass sie sich in Will verliebte.
Und ob mein Engel fiel,
kann ich nicht sagen,
Doch scheint es fast, da
fern mir alle zwei,
Und beide Geister
freundlich sich vertragen,
Daß einer in des
ändern Hölle sei.
Das Sonett - falls es eines
sein sollte - war unvollendet. Das Verspaar am Schluss fehlte. Ein kleines
bitteres Lächeln des Triumphs huschte über ihre Lippen. Wenn
Shakespeare es nicht vollendet hatte, dann, weil er nicht konnte. Er
wusste nicht, wie die Geschichte ausging. Und wenn sie auch in ihrem
eigenen Netz gefangen war wie eine Fliege, so wusste sie wenigstens, was
geschah. Und er tappte im Dunkeln.
Dann kam ihr ein weiterer
Gedanke. Hatte er das Gedicht absichtlich hier liegen und sie allein
gelassen, damit sie es sähe? Bat Shakespeare sie indirekt um eine
Antwort? Angelte er, durch Dichtung, nach der Wahrheit?
Feder und Stift lagen auf dem
Pult. Sie begann vor dem Fenster auf und ab zu gehen, während der
Saum ihres Kleids über die Binsenmatten streifte. Sie wollte, dass
Shakespeare die Wahrheit erfuhr. Nur durfte sie keinen Bruch mit ihm
riskieren. Noch nicht. Nicht bis sie sicher war, allein dafür sorgen
zu können, dass bei Will die Aufmerksamkeiten seiner Brüder und
die Angebote der Howards auf taube Ohren trafen. Ihr Antwortvers musste
messerscharf sein.
Schließlich griff sie
zur Feder, biss sich auf die Zunge und begann sorgfältig zu
schreiben.
Die Wahrheit kenn ich
nicht, bleibt mein Vermuten -
Sie hörte ein Geräusch
an der Tür. Hastig legte sie die Feder hin, ging ans Fenster zurück
und strich ihr Kleid glatt, während sie hinab in den Garten starrte,
ohne etwas zu sehen.
Falls Shakespeare mit einem
Blick sah, was sie getan hatte, so sagte er nichts. An diesem Nachmittag
gaben sie sich einander mit ungewöhnlicher Leidenschaft hin, wieder
und wieder, bis in den trägen blauen Seufzer der Dämmerung
hinein, als der Duft der Veilchen durch das offene Fenster strömte.
Wann er die Gelegenheit fand,
das Gedicht zu beenden, wusste sie nicht. Er war kaum von ihrer Seite
aufgestanden, außer um Wein nachzuschenken und ihr den schäumenden
Silberkelch ans Bett zu bringen.
Doch als er ging, fand sie im
Kerzenschein einen zweiten Vers, der sich an ihren drängte und das
Sonett vollendete.
Der Engel flieht einst aus
der Teuflin Gluten.
In seiner derben Leichtigkeit
war der Vers wie ein Schlag ins Gesicht. Es war eine Verweigerung, gemalt
in großen Schnörkeln, ihren Vers ernst zu nehmen, ihre Liebe
ernst zu nehmen - alles andere außer Will.
Doch als sie jetzt den Knaben
am Altar beobachtete, erkannte sie, dass es auch ein Eingeständnis
gewesen war. Shakespeare vermutete nicht nur, dass ein Geist in des ändern
»Hölle« war. Er wusste es. Er weigerte sich, es
zuzugeben, und würde es abstreiten, bis alles
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