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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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starrte.
    Inzwischen waren mehrere
     Monate vergangen.
    Durch die Lücke im
     Vorhang sah sie, wie Will sich bekreuzigte, und eine zarte Röte
     überzog die weiße Haut ihres Dekolletes. Gestern, als sie durch
     Shakespeares Kammer wanderte, war sie durch Zufall auf ein Gedicht gestoßen,
     und bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie die erste Zeile gelesen. Zwei
     Geister hab’ ich trost- und qualenreich. Sie war zurückgezuckt,
     als hätte sie etwas gebissen. Sie mochte es nicht, ungefragt seine
     Worte zu lesen. Es kam ihr schändlich vor.
    Und so hätte sie
     wahrscheinlich nicht weitergelesen, hätte er sie nicht so lange
     warten lassen. Doch die Worte nagten und zerrten an ihr. Natürlich
     war sein geplagtes »ich« er selbst, doch auf sie traf es
     ebenso zu. Als er immer noch nicht kam, las sie: 
     
    Zwei Geister hab’
     ich trost- und qualenreich,
    Die mich verlocken stets
     im Widerstreite,
    Ein blonder Jüngling
     steht mir engelgleich,
    Ein dunkles Weib als böser
     Geist zur Seite.
     
    Feuerröte trieb ihr in
     die Wangen. Das Gedicht handelte von ihr, doch es war nicht für sie
     bestimmt. Qualenreich? Böser Geist? So schätzte er sie ein?
    Sie las weiter.
     
    Die Arge lockt, zur Hölle
     mich zu bringen,
    Den bessern Genius fort
     von meinem Pfad,
    Will meinen Heiligen zum
     Teufel dingen,
    Dem buhlend sie mit
     falschen Reizen naht.
     
    Sie hatte alles angezettelt,
     schalt sie sich, diesen Aufruhr von Eifersucht und Verwirrung. Doch was
     sie nicht gewollt hatte, war, dass sie sich in ihrem eigenen Netz verfing.
     Sie hatte nicht gewollt, dass sie sich in Will verliebte.
     
    Und ob mein Engel fiel,
     kann ich nicht sagen,
    Doch scheint es fast, da
     fern mir alle zwei,
    Und beide Geister
     freundlich sich vertragen,
    Daß einer in des
     ändern Hölle sei.
     
    Das Sonett - falls es eines
     sein sollte - war unvollendet. Das Verspaar am Schluss fehlte. Ein kleines
     bitteres Lächeln des Triumphs huschte über ihre Lippen. Wenn
     Shakespeare es nicht vollendet hatte, dann, weil er nicht konnte. Er
     wusste nicht, wie die Geschichte ausging. Und wenn sie auch in ihrem
     eigenen Netz gefangen war wie eine Fliege, so wusste sie wenigstens, was
     geschah. Und er tappte im Dunkeln.
    Dann kam ihr ein weiterer
     Gedanke. Hatte er das Gedicht absichtlich hier liegen und sie allein
     gelassen, damit sie es sähe? Bat Shakespeare sie indirekt um eine
     Antwort? Angelte er, durch Dichtung, nach der Wahrheit?
    Feder und Stift lagen auf dem
     Pult. Sie begann vor dem Fenster auf und ab zu gehen, während der
     Saum ihres Kleids über die Binsenmatten streifte. Sie wollte, dass
     Shakespeare die Wahrheit erfuhr. Nur durfte sie keinen Bruch mit ihm
     riskieren. Noch nicht. Nicht bis sie sicher war, allein dafür sorgen
     zu können, dass bei Will die Aufmerksamkeiten seiner Brüder und
     die Angebote der Howards auf taube Ohren trafen. Ihr Antwortvers musste
     messerscharf sein.
    Schließlich griff sie
     zur Feder, biss sich auf die Zunge und begann sorgfältig zu
     schreiben.
     
    Die Wahrheit kenn ich
     nicht, bleibt mein Vermuten -
     
    Sie hörte ein Geräusch
     an der Tür. Hastig legte sie die Feder hin, ging ans Fenster zurück
     und strich ihr Kleid glatt, während sie hinab in den Garten starrte,
     ohne etwas zu sehen.
    Falls Shakespeare mit einem
     Blick sah, was sie getan hatte, so sagte er nichts. An diesem Nachmittag
     gaben sie sich einander mit ungewöhnlicher Leidenschaft hin, wieder
     und wieder, bis in den trägen blauen Seufzer der Dämmerung
     hinein, als der Duft der Veilchen durch das offene Fenster strömte.
    Wann er die Gelegenheit fand,
     das Gedicht zu beenden, wusste sie nicht. Er war kaum von ihrer Seite
     aufgestanden, außer um Wein nachzuschenken und ihr den schäumenden
     Silberkelch ans Bett zu bringen.
    Doch als er ging, fand sie im
     Kerzenschein einen zweiten Vers, der sich an ihren drängte und das
     Sonett vollendete.
     
    Der Engel flieht einst aus
     der Teuflin Gluten.
     
    In seiner derben Leichtigkeit
     war der Vers wie ein Schlag ins Gesicht. Es war eine Verweigerung, gemalt
     in großen Schnörkeln, ihren Vers ernst zu nehmen, ihre Liebe
     ernst zu nehmen - alles andere außer Will.
    Doch als sie jetzt den Knaben
     am Altar beobachtete, erkannte sie, dass es auch ein Eingeständnis
     gewesen war. Shakespeare vermutete nicht nur, dass ein Geist in des ändern
     »Hölle« war. Er wusste es. Er weigerte sich, es
     zuzugeben, und würde es abstreiten, bis alles

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