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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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Goldstaub auf die Bühne.
     Ein guter Schauspieler hat in einem Monat in den Lagern zehnmal so viel
     verdient wie in New York oder London in der ganzen Saison -«
    »Na schön, Frau
     Professor«, unterbrach mich Ben.
    »Ich bin keine —«
    »Wenn Ihnen der
     Spitzname nicht gefällt, reden Sie nicht so viel. Ich wollte nur
     sagen, dass man, nur weil man Shakespeare kennt, noch lange nicht schreiben kann wie er.«
     Er nahm mir den Brief aus der Hand und überflog ihn. »›Ihr
     Blick, Sir, sei von wunderbarer Weisheit …‹ Glauben Sie
     wirklich, irgendein alter Goldgräber hätte das geschrieben?«
    »Wie kommen Sie darauf,
     dass er alt war?«, fragte ich. »Nur weil Sie das Bild im Kopf
     haben, das Hollywood uns eingetrichtert hat, vom schrulligen Graubart mit
     dem Hinkebein?« Je länger ich darüber nachdachte, desto
     sicherer wurde ich, dass es um Goldminen ging. »Oder haben Sie einen
     besseren Vorschlag?«
    »Ich verstehe nicht, wo
     das hinführen soll.«
    »Es führt nach
     Utah«, erklärte ich.
    »Nach Utah? Nicht der
     erste Ort, der mir einfällt, wenn es um Shakespeare geht. Oder um
     Gold.«
    »Sie waren eben noch
     nie beim Utah Shakespearean Festival.« Ich fuhr mit dem Finger
     über das Regalfach. »Sie denken vielleicht, das Globe in London
     ist surreal. Warten Sie ab, bis Sie das Globe in Cedar City gesehen haben,
     im Land der roten Felsen.«
    »Sie machen Witze.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie glauben, er ist da
     aufgetreten?«
    »Das Theater wurde erst
     in den 1970ern gebaut. Und wie ich schon sagte, ich glaube, Granville
     suchte nach Gold. Das, wo ich hinwill, ist gleich daneben: das Utah
     Shakespeare Archive.«
    ›Archiv‹ war
     eine irreführende Bezeichnung. Vielmehr handelte es sich um eine Art
     Datenbank, eine Verrechnungsstelle im alten Sinne, voller Karteikarten,
     die Querverbindungen zwischen jedem bekannten Namen, jeder Aufführung,
     jedem Ort, jeder Person und jedem Ereignis westlich des Mississippi
     herstellten, die je irgendetwas mit Shakespeare zu tun gehabt hatten. Es
     gab zwar eine hübsche Sammlung kleinerer Objekte, doch im Westen der
     USA hatte man Shakespeare in einem Maß verehrt, das zu der
     ungeheuren Weite passte, die zu erobern die Pioniere als ihre Pflicht
     ansahen. Die Folge war, dass viele seiner Namensvettern - Minen, Städte,
     Wasserreservoirs, Flüsse und Berge - sich nicht eben als Sammlerstücke
     eigneten. Und was man im Archiv nicht sammeln oder kopieren konnte, das
     wurde kartografiert.
    »Ros’ liebste
     private Recherchesammlung in den Vereinigten Staaten.« Ich bückte
     mich, um die Sekundärliteratur in den unteren Fächern
     durchzugehen, bis ich das Buch fand, das ich suchte, und es Ben in die
     Hand drückte. Das Cover zeigte die nachkolorierte Fotografie eines
     Schauspielers in Wams und Cowboyhut, der in klassischer Hamlet-Pose einen
     Totenkopf in der Hand hielt - ein Cameo vor einem modernen Foto des weiten
     Westens mit seinem unendlichen Himmel. ›Shakespeares Wilder Wester‹
     lautete der Titel. Von Rosalind Howard.
    »Ihr letztes Buch -
     endgültig«, sagte ich. »Ihre Recherchen dazu hat sie vor
     Ort betrieben. Ich half ihr dabei, am Anfang zumindest. Bevor sich unsere
     Wege trennten.«
    Einen glorreichen Sommer lang
     war ich für Ros endlose Strecken durch die Prärien gefahren,
     hinauf in die Berge und in Canyons hinunter, auf der Suche nach
     vielversprechenden Geschichten und längst vergessenen Aufführungen.
     Jener Sommer hatte mein Leben verändert, allerdings nicht in die
     Richtung, die Ros vielleicht für mich vorgesehen hatte. In Leadville,
     Colorado, einer ehemals wilden Silbergräberstadt, die längst gezähmt
     war, hatte ich auf der staubigen Bühne eines heruntergekommenen
     Theaters zum ersten Mal Julias Worte laut ausgesprochen. Flüsternd
     zunächst, doch dann war meine Stimme angeschwollen, bis sie die
     Dunkelheit des Zuschauerraums erfüllte. Und mit einer plötzlichen
     Erleuchtung hatte ich den Unterschied zwischen Shakespeare im Buch und
     Shakespeare auf der Bühne begriffen. Es war wie der Unterschied
     zwischen heißer Erfahrung und süßer Erinnerung, zwischen
     dem quirligen Leben und dem starren, heiligen Tod.
    Als ich im folgenden Herbst
     von ein paar Studenten, die meinen Teil von Ros’ großer
     Shakespeare-Vorlesung hörten, gebeten wurde, bei der Inszenierung von
     ›Romeo und Julia‹ auszuhelfen, hatte ich die Chance
     ergriffen. Im Frühling sagte ich zu,

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