Die Shakespeare-Morde
Goldstaub auf die Bühne.
Ein guter Schauspieler hat in einem Monat in den Lagern zehnmal so viel
verdient wie in New York oder London in der ganzen Saison -«
»Na schön, Frau
Professor«, unterbrach mich Ben.
»Ich bin keine —«
»Wenn Ihnen der
Spitzname nicht gefällt, reden Sie nicht so viel. Ich wollte nur
sagen, dass man, nur weil man Shakespeare kennt, noch lange nicht schreiben kann wie er.«
Er nahm mir den Brief aus der Hand und überflog ihn. »›Ihr
Blick, Sir, sei von wunderbarer Weisheit …‹ Glauben Sie
wirklich, irgendein alter Goldgräber hätte das geschrieben?«
»Wie kommen Sie darauf,
dass er alt war?«, fragte ich. »Nur weil Sie das Bild im Kopf
haben, das Hollywood uns eingetrichtert hat, vom schrulligen Graubart mit
dem Hinkebein?« Je länger ich darüber nachdachte, desto
sicherer wurde ich, dass es um Goldminen ging. »Oder haben Sie einen
besseren Vorschlag?«
»Ich verstehe nicht, wo
das hinführen soll.«
»Es führt nach
Utah«, erklärte ich.
»Nach Utah? Nicht der
erste Ort, der mir einfällt, wenn es um Shakespeare geht. Oder um
Gold.«
»Sie waren eben noch
nie beim Utah Shakespearean Festival.« Ich fuhr mit dem Finger
über das Regalfach. »Sie denken vielleicht, das Globe in London
ist surreal. Warten Sie ab, bis Sie das Globe in Cedar City gesehen haben,
im Land der roten Felsen.«
»Sie machen Witze.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie glauben, er ist da
aufgetreten?«
»Das Theater wurde erst
in den 1970ern gebaut. Und wie ich schon sagte, ich glaube, Granville
suchte nach Gold. Das, wo ich hinwill, ist gleich daneben: das Utah
Shakespeare Archive.«
›Archiv‹ war
eine irreführende Bezeichnung. Vielmehr handelte es sich um eine Art
Datenbank, eine Verrechnungsstelle im alten Sinne, voller Karteikarten,
die Querverbindungen zwischen jedem bekannten Namen, jeder Aufführung,
jedem Ort, jeder Person und jedem Ereignis westlich des Mississippi
herstellten, die je irgendetwas mit Shakespeare zu tun gehabt hatten. Es
gab zwar eine hübsche Sammlung kleinerer Objekte, doch im Westen der
USA hatte man Shakespeare in einem Maß verehrt, das zu der
ungeheuren Weite passte, die zu erobern die Pioniere als ihre Pflicht
ansahen. Die Folge war, dass viele seiner Namensvettern - Minen, Städte,
Wasserreservoirs, Flüsse und Berge - sich nicht eben als Sammlerstücke
eigneten. Und was man im Archiv nicht sammeln oder kopieren konnte, das
wurde kartografiert.
»Ros’ liebste
private Recherchesammlung in den Vereinigten Staaten.« Ich bückte
mich, um die Sekundärliteratur in den unteren Fächern
durchzugehen, bis ich das Buch fand, das ich suchte, und es Ben in die
Hand drückte. Das Cover zeigte die nachkolorierte Fotografie eines
Schauspielers in Wams und Cowboyhut, der in klassischer Hamlet-Pose einen
Totenkopf in der Hand hielt - ein Cameo vor einem modernen Foto des weiten
Westens mit seinem unendlichen Himmel. ›Shakespeares Wilder Wester‹
lautete der Titel. Von Rosalind Howard.
»Ihr letztes Buch -
endgültig«, sagte ich. »Ihre Recherchen dazu hat sie vor
Ort betrieben. Ich half ihr dabei, am Anfang zumindest. Bevor sich unsere
Wege trennten.«
Einen glorreichen Sommer lang
war ich für Ros endlose Strecken durch die Prärien gefahren,
hinauf in die Berge und in Canyons hinunter, auf der Suche nach
vielversprechenden Geschichten und längst vergessenen Aufführungen.
Jener Sommer hatte mein Leben verändert, allerdings nicht in die
Richtung, die Ros vielleicht für mich vorgesehen hatte. In Leadville,
Colorado, einer ehemals wilden Silbergräberstadt, die längst gezähmt
war, hatte ich auf der staubigen Bühne eines heruntergekommenen
Theaters zum ersten Mal Julias Worte laut ausgesprochen. Flüsternd
zunächst, doch dann war meine Stimme angeschwollen, bis sie die
Dunkelheit des Zuschauerraums erfüllte. Und mit einer plötzlichen
Erleuchtung hatte ich den Unterschied zwischen Shakespeare im Buch und
Shakespeare auf der Bühne begriffen. Es war wie der Unterschied
zwischen heißer Erfahrung und süßer Erinnerung, zwischen
dem quirligen Leben und dem starren, heiligen Tod.
Als ich im folgenden Herbst
von ein paar Studenten, die meinen Teil von Ros’ großer
Shakespeare-Vorlesung hörten, gebeten wurde, bei der Inszenierung von
›Romeo und Julia‹ auszuhelfen, hatte ich die Chance
ergriffen. Im Frühling sagte ich zu,
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