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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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kalter Luftzug erfasste
     uns, als hinter uns die Tür aufgerissen wurde. Erschrocken drehte ich
     mich um. Eine rundliche Frau mit kurzem braunen Haar nickte uns zu, dann
     rauschte sie die Treppe hinunter, einen Stapel Bücher und eine pralle
     Computertasche unter den Armen.
    »Du bist schreckhaft
     heute, Kate«, bemerkte Matthew, als sie vorbei war.
    »Ein
     Shakespeare-Notfall?«, fragte ich zurück.
    Matthew sah sich um, dann
     beugte er sich verschwörerisch vor. »Es geht um die First Folio
     Edition. Seit dem Brand gestern Nacht fliegen überall halb verkohlte
     Seiten der Gutenbergbibel herum, aber von der Folio wurde bisher noch kein
     Schnipsel gefunden. Und an der Vitrine, in der beide Bücher lagen,
     hat sich anscheinend jemand zu schaffen gemacht.«
    Die Temperatur schien
     schlagartig zu fallen. »Was sagst du da?«
    »Sieht aus, als wäre
     die Folio gestohlen worden, bevor das Feuer ausbrach.«
    Ich dachte an das
     mondbeschienene Blatt, die mit blauer Tinte gekritzelte Hand, die auf eine
     Textstelle wies: Auftritt der geschändeten Lavinia. Eine Seite aus
     der Folio.
    »Es wird eine Weile
     dauern, bis es offiziell ist«, sagte Matthew, »aber nachdem im
     Globe Theatre wohl etwas Ähnliches passiert ist, liegt die Möglichkeit
     nahe. Geht es dir gut? Du bist ja kreidebleich.«
    Ich riss mich los. »Ich
     muss gehen.«
    »Warte.«
    Auf der letzten Stufe blieb
     ich stehen.
    »Die letzten Tage müssen
     schrecklich für dich gewesen sein.« Er musterte mich voller
     Besorgnis und Mitgefühl. »Hör mal, ich weiß nicht,
     was ich getan habe, dass du sauer auf mich bist, aber gib mir eine Chance,
     es wiedergutzumachen. Darf ich dich später auf einen Drink einladen?
     Zu Ehren von Ros.« Er lächelte traurig. »Sie hat immer
     gesagt, es sei nicht mehr dasselbe gewesen, seit du weg warst…
     Nebenbei, du siehst toll aus. Das Theater scheint dir gut zu bekommen.«
    »Matthew -«
    »Nur ein Drink. Ich
     hole dich ab. Wo bist du abgestiegen?«
    »Im« - im letzten
     Moment besann ich mich - »im Harvard Inn.«
    »Ausgezeichnet. Wir
     gehen in den Faculty Club. Direkt gegenüber. Um halb sechs.« Er
     öffnete die Tür zur Bibliothek, und wieder zog kalte Luft
     heraus. Dahinter hörte ich, wie die Tür des Lesesaals zum
     dritten Mal summte.
    »Also gut«, log
     ich und wandte mich brüsk ab. So schnell ich konnte, marschierte ich
     an der Längsseite des Gebäudes entlang bis zur Ecke, dann fing ich zu rennen an.
     Ich lief zum Tor, das zur Wigglesworth Hall führte. Ich dachte immer
     noch über Matthews Neuigkeiten nach, als ich auf die Massachusetts
     Avenue kam.
    Die First Folios waren
     verschwunden. Nicht zerstört. Verschwunden.
    Eine Handbreit vor meinem
     Gesicht rauschte ein Bus vorbei und blies mir eine stinkende Dieselwolke
     ins schweißfeuchte Haar. Ich lief über die Straße und
     joggte den backsteingepflasterten Bürgersteig hinunter, bis ich vor
     dem vertrauten schwarz gerahmten Schaufenster stand. Die goldenen Lettern
     darüber verkündeten: HARVARD BOOK STORE.
    Ich trat ein. Bis auf die
     Schaufensterauslage hatte sich nichts verändert, seit ich Cambridge
     verlassen hatte. Der hintere Raum war der Literatur gewidmet. In der Mitte
     stand das Shakespeare-Regal. Nachdenklich ließ ich den Finger über
     die Buchrücken gleiten.
    Bis vor fünfzehn Minuten
     hatte ich angenommen, Chambers sollte irgendwie erklären, warum Ros
     auf das jakobäische Magnum opus, A. D. 1623 - Shakespeares Folio -,
     Bezug genommen hatte. Doch stattdessen brachte mich Chambers auf ›Cardenio‹,
     während Shakespeares Folios von der Bildfläche verschwanden.
     Buchstäblich, wenn Matthew recht hatte.
    Ich wusste nicht, ob ich
     weinen oder lachen sollte. Wenigstens waren die Folios nicht zerstört,
     verbrannt auf dem Scheiterhaufen eines Mörders. Andererseits, wenn
     der Dreckskerl, der mich durch die Bibliothek gejagt hatte, sie nicht
     zerstört hatte, hatte er sie mitgenommen. Was bedeutete, er brauchte
     sie. Unbedingt.
    Wozu?
    Ich war mir sicher, dass der
     Brief und die First Folios am Ende zum gleichen Ziel führten: zu
     einem Shakespeare-Manuskript, das hoffentlich noch immer unter einer
     dicken Staubschicht begraben lag.
    Wusste er, wonach er suchte?
     Vielleicht noch nicht, da er sich so rasch von einer First Folio zur nächsten
     bewegte - sogar zu einer dritten, wenn man die Faksimile-Ausgabe aus Ros’
     Büro mitzählte. Andererseits: Er musste ungefähr wissen,
     was er tat.

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