Die Shakespeare-Morde
kalter Luftzug erfasste
uns, als hinter uns die Tür aufgerissen wurde. Erschrocken drehte ich
mich um. Eine rundliche Frau mit kurzem braunen Haar nickte uns zu, dann
rauschte sie die Treppe hinunter, einen Stapel Bücher und eine pralle
Computertasche unter den Armen.
»Du bist schreckhaft
heute, Kate«, bemerkte Matthew, als sie vorbei war.
»Ein
Shakespeare-Notfall?«, fragte ich zurück.
Matthew sah sich um, dann
beugte er sich verschwörerisch vor. »Es geht um die First Folio
Edition. Seit dem Brand gestern Nacht fliegen überall halb verkohlte
Seiten der Gutenbergbibel herum, aber von der Folio wurde bisher noch kein
Schnipsel gefunden. Und an der Vitrine, in der beide Bücher lagen,
hat sich anscheinend jemand zu schaffen gemacht.«
Die Temperatur schien
schlagartig zu fallen. »Was sagst du da?«
»Sieht aus, als wäre
die Folio gestohlen worden, bevor das Feuer ausbrach.«
Ich dachte an das
mondbeschienene Blatt, die mit blauer Tinte gekritzelte Hand, die auf eine
Textstelle wies: Auftritt der geschändeten Lavinia. Eine Seite aus
der Folio.
»Es wird eine Weile
dauern, bis es offiziell ist«, sagte Matthew, »aber nachdem im
Globe Theatre wohl etwas Ähnliches passiert ist, liegt die Möglichkeit
nahe. Geht es dir gut? Du bist ja kreidebleich.«
Ich riss mich los. »Ich
muss gehen.«
»Warte.«
Auf der letzten Stufe blieb
ich stehen.
»Die letzten Tage müssen
schrecklich für dich gewesen sein.« Er musterte mich voller
Besorgnis und Mitgefühl. »Hör mal, ich weiß nicht,
was ich getan habe, dass du sauer auf mich bist, aber gib mir eine Chance,
es wiedergutzumachen. Darf ich dich später auf einen Drink einladen?
Zu Ehren von Ros.« Er lächelte traurig. »Sie hat immer
gesagt, es sei nicht mehr dasselbe gewesen, seit du weg warst…
Nebenbei, du siehst toll aus. Das Theater scheint dir gut zu bekommen.«
»Matthew -«
»Nur ein Drink. Ich
hole dich ab. Wo bist du abgestiegen?«
»Im« - im letzten
Moment besann ich mich - »im Harvard Inn.«
»Ausgezeichnet. Wir
gehen in den Faculty Club. Direkt gegenüber. Um halb sechs.« Er
öffnete die Tür zur Bibliothek, und wieder zog kalte Luft
heraus. Dahinter hörte ich, wie die Tür des Lesesaals zum
dritten Mal summte.
»Also gut«, log
ich und wandte mich brüsk ab. So schnell ich konnte, marschierte ich
an der Längsseite des Gebäudes entlang bis zur Ecke, dann fing ich zu rennen an.
Ich lief zum Tor, das zur Wigglesworth Hall führte. Ich dachte immer
noch über Matthews Neuigkeiten nach, als ich auf die Massachusetts
Avenue kam.
Die First Folios waren
verschwunden. Nicht zerstört. Verschwunden.
Eine Handbreit vor meinem
Gesicht rauschte ein Bus vorbei und blies mir eine stinkende Dieselwolke
ins schweißfeuchte Haar. Ich lief über die Straße und
joggte den backsteingepflasterten Bürgersteig hinunter, bis ich vor
dem vertrauten schwarz gerahmten Schaufenster stand. Die goldenen Lettern
darüber verkündeten: HARVARD BOOK STORE.
Ich trat ein. Bis auf die
Schaufensterauslage hatte sich nichts verändert, seit ich Cambridge
verlassen hatte. Der hintere Raum war der Literatur gewidmet. In der Mitte
stand das Shakespeare-Regal. Nachdenklich ließ ich den Finger über
die Buchrücken gleiten.
Bis vor fünfzehn Minuten
hatte ich angenommen, Chambers sollte irgendwie erklären, warum Ros
auf das jakobäische Magnum opus, A. D. 1623 - Shakespeares Folio -,
Bezug genommen hatte. Doch stattdessen brachte mich Chambers auf ›Cardenio‹,
während Shakespeares Folios von der Bildfläche verschwanden.
Buchstäblich, wenn Matthew recht hatte.
Ich wusste nicht, ob ich
weinen oder lachen sollte. Wenigstens waren die Folios nicht zerstört,
verbrannt auf dem Scheiterhaufen eines Mörders. Andererseits, wenn
der Dreckskerl, der mich durch die Bibliothek gejagt hatte, sie nicht
zerstört hatte, hatte er sie mitgenommen. Was bedeutete, er brauchte
sie. Unbedingt.
Wozu?
Ich war mir sicher, dass der
Brief und die First Folios am Ende zum gleichen Ziel führten: zu
einem Shakespeare-Manuskript, das hoffentlich noch immer unter einer
dicken Staubschicht begraben lag.
Wusste er, wonach er suchte?
Vielleicht noch nicht, da er sich so rasch von einer First Folio zur nächsten
bewegte - sogar zu einer dritten, wenn man die Faksimile-Ausgabe aus Ros’
Büro mitzählte. Andererseits: Er musste ungefähr wissen,
was er tat.
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