Die Shakespeare-Morde
Brief zwischen die Seiten meines Blocks.
»Utah?«, fragte
Ben. Diesmal war es keine rhetorische Frage.
Ich nickte.
»Warten Sie hier«,
sagte er. »Fünf Minuten, dann hole ich Sie mit dem Taxi ab.«
Als er zur Tür ging, hatte er bereits das Telefon am Ohr.
16
Fünf Minuten. Entweder
ich brach in Panik aus, oder ich nutzte die Zeit.
Ich warf noch einen kurzen
Blick auf die Polizeiwagen, die auf der Straße standen, dann setzte
ich mich zwischen den Regalen auf den Boden, legte meine Tasche neben mich
und schlug die ›Elisabethanische Bühne‹ auf. Chambers
schrieb, dass ›Cardenio‹ eine Gemeinschaftsarbeit von
Shakespeare und John Fletcher war, seinem von ihm selbst erwählten
Nachfolger als Dramatiker der King’s Men. Wie viel Mr Fletcher
beigetragen hatte und welche Teile von ihm stammten, blieb zu vermuten.
Allerdings waren solche
Vermutungen unsinnig, solange der Text verschollen war. Die Tatsache, dass
das Stück eine Gemeinschaftsarbeit war, lieferte jedoch einen anderen
Hinweis: Wahrscheinlich handelte es sich um ein spätes Werk, denn die
beiden anderen Stücke, die Shakespeare mit Fletcher zusammen
geschrieben hatte - ›Die beiden edlen Vettern‹ und ›Heinrich
VIII.‹ -, gehörten zu seinen letzten.
Nachdenklich blätterte
ich weiter. Anscheinend lag ich mit der Datierung richtig:
Bei ›Cardenio‹
handelt es sich vermutlich um das Stück, das als ›Cardenno‹
oder ›Cardenna‹ 1612-1613 von den King’s Men am Hof
gegeben wurde, zum letzten Mal am 8. Juni 1613. Das Motiv, aus ›Don
Quixote‹ …
Um ein Haar hätte ich
das Buch fallen lassen. Was für ein Esel ich gewesen war. Deswegen
hatte Ros so viel Material zum ›Quixote‹ in ihrem Regal.
Deswegen kam mir die Geschichte so bekannt vor. Ich hatte das Buch
gelesen. Zu meiner Verteidigung, es war viele Jahre her.
Es war an der Zeit, wieder
einen Blick hineinzuwerfen. Ich suchte im Belletristik-Regal unter C wie
Cervantes. Dort stand der ›Don Quixote‹ in der altvertrauten
Penguin-Ausgabe, ein dickes Buch mit schwarzem Rücken, auf dessen
Einband der schlaksige Ritter in einer Federzeichnung von Gustave Doré
abgebildet war. Ich legte es zu Ros’ Buch und dem Folio-Faksimile
und ging eilig zur Kasse. In dem Moment, als meine Kreditkarte akzeptiert
wurde, hielt das Taxi vor der Buchhandlung. Hastig kritzelte ich meine
Unterschrift, dann nahm ich meine Tüte und lief aus dem Laden.
Beim Einsteigen sah ich im
Augenwinkel, dass sich draußen auf der Straße etwas tat. Eine
Gruppe von Männern tauchte im Campus-Tor auf. An der Spitze ging DCI
Sinclair, gefolgt von den Anzugträgern.
»Logan Airport«,
sagte Ben, und das Taxi fuhr los, doch dann stoppte es.
Auf der anderen Straßenseite
waren mit heulenden Sirenen die Streifenwagen gestartet. Im ersten Moment
dachte ich, sie kämen direkt auf uns zu, doch sie wendeten und jagten
in entgegengesetzter Richtung die Massachusetts Avenue hinauf. Plötzlich
schienen aus allen Richtungen Sirenen aufzutauchen.
Ich rutschte so tief wie möglich
in den Sitz; wir hatten nur eine einzige Chance.
Sinclair trat auf die Straße,
doch er kam nicht in unsere Richtung. Im Rückspiegel sah ich, wo er
hinwollte. Zwei Blocks weiter wimmelte es von Streifenwagen. Jenseits der
Blockade, umgeben von bunten Blumenbeeten, thronte ein elegantes
Backsteingebäude. Die Polizei hatte das Harvard Inn umstellt.
Unser Taxi fädelte sich
in den Verkehr ein. Zwei Ecken weiter bogen wir ab und fuhren zum Fluss
hinunter.
*
»Haben Sie
irgendjemandem erzählt, wo Sie absteigen?«, fragte Ben nach ein
paar Minuten.
Ich nickte schuldbewusst.
»Als ich aus der Bibliothek kam, bin ich in einen Bekannten
hineingerannt. Buchstäblich.«
»Muskulöser Kerl?
Baseballkappe?«
»Ich bin ihn nur
losgeworden, weil ich ihm versprach, ihn später auf einen Drink zu
treffen.«
»Er ist schnurstracks
zu Ihrem britischen Bullen gelaufen.«
»Detective Chief
Inspector. Der Bulle, meine ich. Er heißt Sinclair.«
»Und Ihr Bekannter?«
Ich biss mir auf die Lippe.
»Shakespeare-Professor.«
»Verdammt, Kate.«
Bens Missbilligung tat weh, umso mehr, da ich sie verdient hatte. »Haben
Sie als Nächstes vor, sich mit einer roten Fahne mitten auf die Straße
zu stellen?«
Ich nahm an, dass der
Taxifahrer uns durch die Plexiglasscheibe und wegen der haitianischen
Popmusik, die aus den
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