Die Shakespeare-Morde
in der
Nacht davor. Aber ich hätte genauso wenig schlafen können wie
die Flügel ausbreiten und ins Paradies segeln. Außerdem juckte
meine Perücke.
Ich sah zu, wie das Flugzeug
auf die Startbahn rollte, dann hob es ab und glitt hinaus über den
Atlantik, bevor es abdrehte und gen Westen flog. Ich rutschte ruhelos auf
meinem Sitz herum. Wenn Sinclair von Childs Papieren wusste, wusste
vielleicht auch der Mörder davon. Möglicherweise war er uns
sogar voraus. Anscheinend waren wir beide davon überzeugt, dass
irgendwo da draußen ein Theaterstück herumlag, das seit fast
vierhundert Jahren verschollen war.
Hatte Ros das Manuskript, von
dem Granville schrieb, gesehen? Dagegen sprach, dass sie zu mir gekommen
war, um mich um Hilfe zu bitten. Sonst hätte sie damit einfach zu
Christie’s gehen können, wie Sir Henry gesagt hatte.
Was wäre es wohl für
ein Gefühl, ein solches Manuskript in den Händen zu halten?
Granvilles Beschreibung klang nach einem Arbeitsexemplar voller Flecken
und Unterstreichungen. Das Ding an sich wäre keine Schönheit.
Sein Reiz aber hatte eine ganz andere Dimension.
Vor zwanzig Jahren waren zwei
Gedichte aufgetaucht, von denen die Finder behaupteten, sie stammten von
Shakespeare. Es waren nicht einmal besonders gute Gedichte - das gaben
selbst die Finder zu -, und man konnte sie nicht eindeutig dem Barden
zuordnen. Trotzdem hatten sie internationales Aufsehen erregt und waren
zur besten Sendezeit in den Talkshows und auf den Titelseiten der großen
Zeitungen in New York, London und Tokio abgehandelt worden.
Das hier dagegen war ein Stück.
Ein ganzes Theaterstück.
Ben hatte recht. In einer
Welt, in der Kinder wegen einer Radkappe mordeten und Mafiosi Leute
erschossen, nur um zu sehen, ob die Pistole funktionierte - in dieser Welt
gab es genug Leute, denen ein verschollenes Shakespeare-Stück
durchaus mehr wert war als das eine oder andere Menschenleben.
War es ein gutes Stück?
Spielte das eine Rolle?
Für mich schon.
Die meisten Geschichten
lassen gegen Ende nach, doch bei den großen Dramen ist das anders.
Ich hatte davon geträumt, zu lieben wie Julia oder geliebt zu werden
wie Kleopatra. Das Leben auszukosten wie Falstaff oder zu kämpfen wie
Heinrich V. Dass ich nicht mehr als hier und da ein schwaches Echo
zustande brachte, lag nicht an mangelnder Bemühung. Und es war die Mühe
wert: Denn jene schwachen Echos hatten mein Leben tiefer und reicher
gemacht, als es ohne Shakespeare je gewesen wäre. Bei Shakespeare sah
ich, was es hieß, zu lieben und zu lachen, zu hassen, zu betrügen,
ja, selbst zu töten: Mit Shakespeare lernte ich die hellsten und die
dunkelsten Seiten der menschlichen Seele kennen.
Und jetzt schien es, als gäbe
es vielleicht - ganz vielleicht - noch mehr davon.
Es hatte kein »neues«
Shakespeare-Stück mehr gegeben - keines, das noch kein Lebender
gesehen oder gelesen hatte -, seit Shakespeare das letzte von seinem
Schreibpult zum Globe geschickt hatte. Wann war das gewesen? 1613
wahrscheinlich, wahrscheinlich ›Heinrich VIII.‹. Nur ein
knappes Jahr nach der Uraufführung von ›Cardenio‹.
Vielleicht war ›Cardenio‹
Shakespeares jakobäisches Magnum opus.
War es besser als ›König
Lear‹, ›Macbeth‹, ›Othello‹, ›Der
Sturm‹? Die Latte lag hoch.
Aber wenn es wirklich so gut
war, warum tauchte es dann nicht in der First Folio auf? Und warum hatte
Ros auf das Erscheinungsjahr der First Folio verwiesen?
Neben mir hörte ich Ben
leise atmen. Ich ging meine Büchertüte durch und fischte den
Chambers heraus. Dann lehnte ich mich zurück und las den Artikel
über ›Cardenio‹ von Anfang bis Ende, diesmal, ohne
unterbrochen zu werden.
Es sah so aus, als hätte
Shakespeare, nachdem er ›Don Quixote‹ gelesen hatte, ein Stück
geschrieben, das wie eine Sternschnuppe den Himmel streifte. Zunächst
fand es Bewunderer am Hof, doch dann verglühte es und geriet in
Vergessenheit. Laut Chambers gab es nur ein einziges Comeback, eine
Adaption aus dem achtzehnten Jahrhundert mit dem Titel ›Dopelte
Falschheit oder ›Die unglücklich Verliebten‹, in dieser
Schreibweise.
Wenigstens die Adaption hatte
überlebt, auch wenn Chambers andeutete, dass das Stück noch
schlechter sei als die Rechtschreibung seines Titels - so schlecht, dass
es keinen ersichtlichen Grund gab, warum sich ausgerechnet
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