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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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in der
     Nacht davor. Aber ich hätte genauso wenig schlafen können wie
     die Flügel ausbreiten und ins Paradies segeln. Außerdem juckte
     meine Perücke.
    Ich sah zu, wie das Flugzeug
     auf die Startbahn rollte, dann hob es ab und glitt hinaus über den
     Atlantik, bevor es abdrehte und gen Westen flog. Ich rutschte ruhelos auf
     meinem Sitz herum. Wenn Sinclair von Childs Papieren wusste, wusste
     vielleicht auch der Mörder davon. Möglicherweise war er uns
     sogar voraus. Anscheinend waren wir beide davon überzeugt, dass
     irgendwo da draußen ein Theaterstück herumlag, das seit fast
     vierhundert Jahren verschollen war.
    Hatte Ros das Manuskript, von
     dem Granville schrieb, gesehen? Dagegen sprach, dass sie zu mir gekommen
     war, um mich um Hilfe zu bitten. Sonst hätte sie damit einfach zu
     Christie’s gehen können, wie Sir Henry gesagt hatte.
    Was wäre es wohl für
     ein Gefühl, ein solches Manuskript in den Händen zu halten?
     Granvilles Beschreibung klang nach einem Arbeitsexemplar voller Flecken
     und Unterstreichungen. Das Ding an sich wäre keine Schönheit.
     Sein Reiz aber hatte eine ganz andere Dimension.        
    Vor zwanzig Jahren waren zwei
     Gedichte aufgetaucht, von denen die Finder behaupteten, sie stammten von
     Shakespeare. Es waren nicht einmal besonders gute Gedichte - das gaben
     selbst die Finder zu -, und man konnte sie nicht eindeutig dem Barden
     zuordnen. Trotzdem hatten sie internationales Aufsehen erregt und waren
     zur besten Sendezeit in den Talkshows und auf den Titelseiten der großen
     Zeitungen in New York, London und Tokio abgehandelt worden.
    Das hier dagegen war ein Stück.
     Ein ganzes Theaterstück.
    Ben hatte recht. In einer
     Welt, in der Kinder wegen einer Radkappe mordeten und Mafiosi Leute
     erschossen, nur um zu sehen, ob die Pistole funktionierte - in dieser Welt
     gab es genug Leute, denen ein verschollenes Shakespeare-Stück
     durchaus mehr wert war als das eine oder andere Menschenleben.
    War es ein gutes Stück?
    Spielte das eine Rolle?
    Für mich schon.
    Die meisten Geschichten
     lassen gegen Ende nach, doch bei den großen Dramen ist das anders.
     Ich hatte davon geträumt, zu lieben wie Julia oder geliebt zu werden
     wie Kleopatra. Das Leben auszukosten wie Falstaff oder zu kämpfen wie
     Heinrich V. Dass ich nicht mehr als hier und da ein schwaches Echo
     zustande brachte, lag nicht an mangelnder Bemühung. Und es war die Mühe
     wert: Denn jene schwachen Echos hatten mein Leben tiefer und reicher
     gemacht, als es ohne Shakespeare je gewesen wäre. Bei Shakespeare sah
     ich, was es hieß, zu lieben und zu lachen, zu hassen, zu betrügen,
     ja, selbst zu töten: Mit Shakespeare lernte ich die hellsten und die
     dunkelsten Seiten der menschlichen Seele kennen.
    Und jetzt schien es, als gäbe
     es vielleicht - ganz vielleicht - noch mehr davon.
    Es hatte kein »neues«
     Shakespeare-Stück mehr gegeben - keines, das noch kein Lebender
     gesehen oder gelesen hatte -, seit Shakespeare das letzte von seinem
     Schreibpult zum Globe geschickt hatte. Wann war das gewesen? 1613
     wahrscheinlich, wahrscheinlich ›Heinrich VIII.‹. Nur ein
     knappes Jahr nach der Uraufführung von ›Cardenio‹.
    Vielleicht war ›Cardenio‹
     Shakespeares jakobäisches Magnum opus.
    War es besser als ›König
     Lear‹, ›Macbeth‹, ›Othello‹, ›Der
     Sturm‹? Die Latte lag hoch.
    Aber wenn es wirklich so gut
     war, warum tauchte es dann nicht in der First Folio auf? Und warum hatte
     Ros auf das Erscheinungsjahr der First Folio verwiesen? 
    Neben mir hörte ich Ben
     leise atmen. Ich ging meine Büchertüte durch und fischte den
     Chambers heraus. Dann lehnte ich mich zurück und las den Artikel
     über ›Cardenio‹ von Anfang bis Ende, diesmal, ohne
     unterbrochen zu werden.
    Es sah so aus, als hätte
     Shakespeare, nachdem er ›Don Quixote‹ gelesen hatte, ein Stück
     geschrieben, das wie eine Sternschnuppe den Himmel streifte. Zunächst
     fand es Bewunderer am Hof, doch dann verglühte es und geriet in
     Vergessenheit. Laut Chambers gab es nur ein einziges Comeback, eine
     Adaption aus dem achtzehnten Jahrhundert mit dem Titel ›Dopelte
     Falschheit oder ›Die unglücklich Verliebten‹, in dieser
     Schreibweise.
    Wenigstens die Adaption hatte
     überlebt, auch wenn Chambers andeutete, dass das Stück noch
     schlechter sei als die Rechtschreibung seines Titels - so schlecht, dass
     es keinen ersichtlichen Grund gab, warum sich ausgerechnet

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