Die Shakespeare-Morde
Ohnmacht und lässt einen Dolch und einen
Abschiedsbrief fallen. Da ihr Selbstmordversuch scheitert, zieht sie sich
ins Kloster zurück.
»Kein
vielversprechender Stoff für eine Komödie«, stellte Ben
fest.
»Das ist erst der
Anfang«, sagte ich. »Wahrscheinlich würde den meisten Erzählern
an dieser Stelle die Puste ausgehen, aber Cervantes kommt hier erst
richtig in Fahrt.«
Ben überlegte kurz.
»Was, meinen Sie, hat Shakespeare daraus gemacht?«
»Das ist die
64-Millionen-Dollar-Frage.« Die Klimaanlage war voll aufgedreht, und
alles, was nicht niet- und nagelfest war, flatterte im Luftstrom. An den
Stellen meines Körpers, die direkt angeblasen wurden, fror ich;
ansonsten war ich schweißgebadet. Ich schälte mich aus dem
klebrigen Sitz, um mir vom kalten Wind den nass geschwitzten Rücken
trocknen zu lassen. »Ich hoffe nur, dass er den alten Ritter und
seinen Knappen dringelassen hat.«
»Sie ziehen wohl eine
intelligente Komödie der albernen Liebesgeschichte vor.«
Er meinte es nicht als Frage,
doch ich antwortete trotzdem. »Eigentlich immer. Aber das ist nicht
alles.« Auf der Suche nach den richtigen Worten starrte ich in die Wüste
hinaus, als könnte ich sie dort draußen zwischen den Steinen
finden. »Don Quixote und Sancho Pansa … Es sind die beiden,
die der Geschichte die philosophische Dimension geben … Erst durch
die beiden wird das Ganze beständiger als irgendeine Seifenoper.«
»Sie meinen,
Shakespeare hatte nichts für Seifenopern übrig?«
Ich wusste nicht, ob Ben
wirklich neugierig war oder ob er nur stichelte. Wahrscheinlich von beidem
etwas. Immerhin war er mit Ros verwandt. »Ich glaube, Shakespeare
erkannte Qualität, wenn er sie vor sich hatte. ›Don Quixote‹
ist nicht bloß eine Geschichte oder eine Sammlung von Geschichten,
auch wenn man ihn so lesen kann, wenn man will, und sich gut dabei amüsiert.
Allein auf der Unterhaltungsebene ist er das Papier wert, auf das er
gedruckt ist. Aber außerdem ist es ein Buch über Geschichten.
Und darüber, was passiert, wenn Geschichten sich weigern, in einem
Buch festgeschrieben zu werden.«
Während ich zu erklären
versuchte, was ich meinte, sah ich Ben an, weil ich mich fragte, ob er
überhaupt zuhörte oder ob er meine Gedanken mit einem Witz
zunichtemachen würde. Doch er wirkte kein bisschen gelangweilt,
sondern überaus konzentriert - was so wenig zu seiner Salonlöwenverkleidung
passte, dass ich plötzlich ein Kichern unterdrücken musste.
»Sprechen Sie weiter«,
sagte er mit gerunzelter Stirn.
Ich erklärte ihm, dass
bei Cervantes Cardenios Geschichte mit dem Auftauchen von Gegenständen
beginnt - einem toten Esel, der noch gesattelt und gezäumt ist, einer
Ledertasche voll mit Gold, Gedichten und Liebesbriefen -, über die
der Ritter und sein Knappe auf ihrer Reise stolpern. Kurze Zeit später
bringt ein Ziegenhirt den Esel und die Tasche mit den unwiderstehlichen
Gerüchten um einen Verrückten in den Bergen in Verbindung. Als
Don Quixote und Sancho Pansa dem Wahnsinnigen begegnen, vermischen sich
die Gerüchte mit dem Tatsachenbericht, den ihnen der junge Mann -
Cardenio natürlich - in einem lichten Moment erzählt: die
Geschichte seiner verlorenen Liebe und des Verrats durch seinen Freund. Am
Ende verselbstständigt sich Cardenios Geschichte, indem sie in die
Realität hineinplatzt (zumindest in die von Don Quixote und Sancho
Pansa), als der Ritter und sein Knappe in einem Rasthaus allen
Hauptfiguren begegnen, die weinen, schreien, gegeneinander kämpfen
und einander vergeben. Als die Geschichte ihren Höhepunkt erreicht,
sind der Ritter und sein Knappe keine Zuschauer mehr, sondern werden als
Mitwirkende in die Handlung verstrickt.
»Das klingt ziemlich
cool«, sagte Ben. »Haben Sie das selbst herausgefunden?«
Ich lachte. »Schön
wär’s. Aber es geht alles auf Cervantes’ Konto. Viele
seiner Geschichten haben dieses Element: Irgendwie sind sie unfassbar.«
Ich hob meine falsche blonde Mähne an und beugte mich vor, um Luft an
meinen Nacken zu lassen. »Aber wenn sogar ich so ein Manöver
erkenne, erwarte ich von Shakespeare, dass er es mindestens noch schneller
und besser versteht. Immerhin hat er schon vor ›Cardenio‹
mit ähnlichen Ideen gespielt. In ›Der Widerspenstigen Zähmung‹
hat er eine herrliche Komödie daraus gemacht. Und dann ›Macbeth‹
mit den
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