Die Shakespeare-Morde
die Nachahmung
so beharrlich ans Überleben klammerte. Das Original war
wahrscheinlich von A bis Z umgeschrieben worden, wie bei ›Romeo und
Juliette‹ aus der gleichen Zeit, wo die Liebenden am Ende gerade
rechtzeitig aufwachen, um miteinander glücklich zu werden. Im
achtzehnten Jahrhundert liebte man rosige Geschichten, mit einem
ordentlichen Aufbau, höflicher Sprache und Happy End, und so gab es
jede Menge Bedarf für Shakespeare-Bearbeitungen. Trotzdem wollte ich
mir die Adaption ansehen, sobald ich die Möglichkeit dazu fand.
Vielleicht versteckten sich unter all dem Kitsch doch noch ein paar echte
Shakespeare-Verse. Allerdings bräuchte ich eine gut sortierte
Bibliothek, um den Text zu finden.
Zu schade, dass ich in
Harvard keine Zeit gehabt hatte, den Chambers-Eintrag zu Ende zu lesen.
Wahrscheinlich hatte Ros sogar eine Ausgabe von ›Dopelte Falschheit‹
in ihrem Büro; die Houghton-Bibliothek hortete bestimmt mindestens
zwei oder drei davon in ihren Verliesen. Fürs Erste würde
es aber warten müssen. In der Zwischenzeit konnte ich dort anfangen,
wo auch Shakespeare angefangen hatte. Bei Cervantes.
Und so holte ich mein neues
Exemplar von ›Don Quixote‹ heraus und begann zu lesen.
*
Ein paar Stunden, zweihundert
überflogene Seiten und drei Servietten voller Anmerkungen später
hatte ich die Geschichte von Cardenio einigermaßen aus dem
Hauptstrang des ›Quixote‹ herausgelöst. Cervantes war
ein Meister und ein Zauberer des Erzählens. Im ›Don Quixote‹
tauchten Erzählstränge auf und ab und wieder auf wie weiße
Hasen aus Zylindern.
Am Ende hatte ich ein Dreieck
vor mir: eine Ménage à trois, die simple Geometrie der auf
die Probe gestellten Liebe. Der Liebende, die Geliebte und der Freund, der
zum Verräter wird. Die gleiche Architektur hatte Shakespeare schon
vor langer Zeit verwendet, in ›Zwei Herren aus Verona‹,
einem seiner frühesten Dramen.
Doch ›Zwei Herren aus
Verona‹ - ein Stück über eine Freundschaft, die wegen der
Liebe einer Frau zerbricht - war nur der Auftakt. Als ich Cervantes’
Legende von Cardenio las, hatte ich das Gefühl, ich würde
Shakespeares gesammelte Werke durch ein Kaleidoskop betrachten. In einer
einzigen komplizierten Geschichte waren viele der großen Augenblicke
versammelt, die die einzelnen Stücke so denkwürdig machten. Eine
Tochter wird von ihrem Vater zur Hochzeit mit einem verhassten Mann
gezwungen: »Und bist du mein, so soll mein Freund dich haben; wo
nicht, so geh, bettle, hungre, stirb am Wege! Denn nie, bei meiner Seel’,
erkenn ich dich.« Eine zerbrochene Ehe und eine Frau, die schlechter
behandelt wird als ein Hund und doch loyal bleibt, doch noch liebt. Eine
verlorene Tochter - »Meine Tochter. O meine Dukaten!« - und
eine gefundene Tochter. Ein Wald voller Liebesgedichte und ein Mann, der
von Musik verfolgt wird: »Voll Tön’ und süßer
Lieder, die ergötzen und niemand Schaden tun … dass ich beim
Erwachen aufs neu zu träumen heulte.«
Kein Wunder, dass sich
Shakespeare Cardenio zu eigen gemacht hatte, als die Sonne seiner Tage
schwächer wurde. Er musste sich wie zu Hause gefühlt haben.
Schläfrige Wehmut erfüllte
mich, als das Flugzeug mit einem Ruck auf dem Boden aufsetzte. Ich schob
die vollgeschriebenen Servietten in das Buch und verstaute es in der
Tasche. Weniger gut gelang es mir, meine Nervosität
beiseitezuschieben. Ben gähnte, dann streckte er sich und setzte sich
auf. Ein paar Minuten später folgte ich ihm mit klopfendem Herzen ins
Terminal.
Keiner beachtete uns. Die
Polizisten nicht und auch sonst niemand. Unsere Verkleidung, die in Boston
so auffällig war, war in Las Vegas Tarnkluft.
Bens Trick funktionierte. Wir
mischten uns unter die Menge, die sich unter gewölbeartigen
Spiegeldecken die Gänge entlangschob, und passierten riesige Leinwände,
auf denen Showgirls und Pokerprofis ihren Auftritt hatten.
In der Tiefgarage holten wir
einen unauffälligen beigefarbenen Chevy ab - gemietet unter einem
Namen, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit Benjamin Pearl hatte,
zu dem aber dafür verschiedene Kreditkarten und ein Führerschein
passten, die Ben aus der Brieftasche zauberte. Dann fuhren wir hinaus in
die Mojave-Wüste.
18
Im Norden hingen über
einer gezackten Bergkette violette Wolken am Himmel. So weit das Auge
reichte, war die Wüste mit niedrigen
Weitere Kostenlose Bücher