Die Shakespeare-Morde
Büschen übersät.
Die Anzeige behauptete, es herrschten 47°C Außentemperatur, aber
das schien mir noch tiefgestapelt. Nach dem grellen Licht zu urteilen, war
draußen mindestens der Siedepunkt erreicht.
Ben riss mich aus meinen
Gedanken. »Warum hat Ros eigentlich ausgerechnet Sie beauftragt, für
ihr Buch durch die Prärie zu fahren? Kommen Sie von hier draußen
oder so was?«
Ich lachte kurz. »Nein.
Ich komme von überall und nirgendwo. Meine Eltern waren Diplomaten.
Aber ich hatte eine Großtante mit einer Ranch unten im Süden,
in Arizona. An der mexikanischen Grenze.«
»Hatte sie einen Namen,
diese Tante?«
Ich lächelte. »Tante
Helen. Sie hieß Helen. Mein Vater hat sie immer die Gräfin
genannt.« Ich sah in die Ferne. »Meine Eltern starben, als ich
fünfzehn war. Ein Flugzeugabsturz in Kaschmir, in den Ausläufern
des Himalaja. Damals ging ich aufs Internat, und von da an verbrachte ich
die Ferien bei Tante Helen. Zwei Frauen und 5 000 Hektar unberührte
Wildnis, sagte sie immer. Meine Eltern fehlten mir, und am Anfang habe ich
es dort draußen gehasst. Nichts als der Himmel und das hohe,
raschelnde Gras in der Farbe von ausgebleichten Knochen und die seltsamen
Berge am Horizont. Doch am Ende war Crown der einzige Ort, wo ich mich
wirklich zu Hause fühlte.«
Sosehr ich meine Eltern
liebte, eigentlich hatte ich sie nie richtig gekannt. Die meiste Zeit
meines jungen Lebens waren sie fast ausschließlich mit sich und
ihrer Karriere beschäftigt. Tante Helen dagegen hatte mich vom ersten
Tag an geliebt, mit dem unbeirrbaren Herzen einer Löwin. Tante Helen
war wie eine Vorbereitung auf Ros gewesen, schoss es mir durch den Kopf.
Oder sie hatte mir die Kraft gegeben, Ros zu widerstehen, zumindest eine
Zeit lang.
»Die Ranch ist
Vergangenheit?«
»Meine Tante auch. Sie
starb, kurz bevor ich den College-Abschluss machte, und dann wurde die
Ranch aufgeteilt und verkauft - sie war zu teuer, um sie zu vererben.
Meine Tante wollte nicht, dass einer von uns, meine Cousins und Cousinen
oder ich, daran gebunden wäre, und sie wollte nicht, dass es Streit
zwischen uns gab. Jetzt ist das ganze Land ein Patchwork von
20-Hektar-Ranches, aufgekauft von irgendwelchen Managern, die in ihrer
Freizeit ab und zu Cowboy spielen. Ich war nie wieder dort.«
»Das verlorene Paradies«,
sagte Ben mitfühlend.
Nach einer Weile nickte ich.
Von einem Horizont zum
anderen bewegte sich nichts außer den Autos auf dem Highway, dem
Flimmern der Hitze und weit oben, am Rand unseres Blickfelds, einem Vogel
- ein Adler vielleicht -, der sich von den Thermalwinden tragen ließ.
»Sie nennen Ros nicht
›Tante Ros‹«, bemerkte ich plötzlich.
»Das wollte sie nicht.«
Ben steuerte mit einer Hand, während er mit der anderen eine CD-Box
durchging. »Ein so großes Land braucht große Musik. U2
oder Beethoven?«
»Wie wäre es mit
großer Literatur?«, entgegnete ich. Fünf Minuten später
erzählte ich Ben zu den wuchtigen Klängen der ›Eroica‹
die Geschichte von ›Don Quixotes‹.
Der Hauptstrang der Erzählung
war simpel. Im Angesicht einer skeptischen, in die Krise geratenen Welt
zieht der verrückte alte Don als fahrender Ritter aus und reitet quer
durch Spanien auf der Suche nach Abenteuern, begleitet von Sancho Pansa,
seinem nörgelnden Knappen. So weit, so gut.
Das Problem der Geschichte
des Cardenio war, dass es sich um einen Nebenstrang handelte, und die
Nebenstränge im ›Don Quixote‹ sind alles andere als
simpel. Sie tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden wieder, sobald es
spannend wird. So weit ich es überblickte, ging Cardenios Geschichte
wie folgt: Der junge Cardenio, der weit fort von zu Hause im Gefolge des
herzoglichen Hofs festsitzt, betraut seinen Freund Ferdinand, den jüngeren
Sohn des Herzogs, mit der Werbung um seine Geliebte Lucinda. Doch als
Ferdinand Lucinda zum ersten Mal erblickt, wie sie sich im Kerzenschein
aus dem Fenster lehnt, beschließt er, Cardenio zu hintergehen und
die Dame für sich zu gewinnen.
Cardenio kehrt genau zu dem
Zeitpunkt nach Hause zurück, als die Geliebte an der Seite seines
besten Freunds vor dem Altar steht und »Ja, ich will« sagt. Er
springt zwischen die beiden, zieht das Schwert, doch bevor er jemanden tötet,
flieht er, wahnsinnig vor Eifersucht und Kummer, in die Berge. Vor dem
Altar fällt Lucinda in
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