Die sieben Häupter
Den Beutel des Mannes aus Cathay mit dem Drachensamen, dessen dämonische Kräfte imstande waren, das Jüngste Gericht zu entfesseln. Und den Beutel des Mönchs, in dem der Himmel mochte wissen was steckte. Und sie beging wohl kaum eine Sünde, wenn sie daher den Drachensamen verschwieg, der ja den Kerkermeister gar nicht interessierte. »Er besaß nichts als seine Kleider«, wiederholte Ethlind mit fester Stimme.
Einen Moment lang sah es so aus, als wolle der Abt erneut aufbrausen. Doch er unterließ es. Vielleicht war ihm eingefallen, daß Ethlind den Kranken aus eigenem Antrieb zum Kloster gebracht hatte. Das würde sie kaum getan haben, wenn sie die Komplizin bei dem Verbrechen gewesen wäre, dessen er seinen Gefangenen beschuldigte.
Er wandte sich zur Tür, und der dicke Mönch bedeutete Ethlind mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Der Mann aus Cathay sank aufs Stroh zurück. Sein Gesicht sah aus wie mit Mehl bestäubt. Er würde sterben. Blind vor Tränen überlegte Ethlind, ob sie etwas zum Abschied sagen sollte, unterließ es aber. Die Dinge, die ihr auf dem Herzen lagen, konnte sie ihm vor den Ohren des Abts sowieso nicht anvertrauen: Daß sie immer nur sein Wohl im Auge gehabt hatte, wie leid es ihr tat, ihn in eine so schreckliche Lage gebracht zu haben, und – daß sie das Versprechen, welches er ihr auf dem Weg zum Kloster abgenommen hatte, halten würde.
Bedrückt sah sie zu, wie die Tür geschlossen und mit zwei Eisenriegeln verrammelt wurde. Es war töricht von ihr, um einen Fremden zu trauern, der nichts tat, als sie auszunutzen. Sie wiederholte diesen Gedanken ein paarmal im stillen. Und doch hatte sie mit jedem Schritt, den sie die Treppe hinaufstieg, das Gefühl, ein Stück ihres Herzens würde absterben.
Blinzelnd trat sie in den Klosterhof, der trotz der fortgeschrittenen Stunde hell erschien im Gegensatz zu dem Kellerloch.
»Er trug wirklich nichts bei sich?«
»Nein, ehrwürdiger Vater.«
Aus dem Schweinestall, der auf der anderen Seite des Hofs an der Klostermauer lag, drang ein Lachen. Die Holztür wurde aufgestoßen, und ein magerer Junge in einem schmutzigen Kittel schleppte einen Eimer voller Mist ins Freie. Als er den Abt erblickte, erstarrte sein Grinsen, und er zog sich mitsamt Eimer wieder in den Stall zurück. Ethlind hörte ihn etwas flüstern, und jeder Laut im Stall verstummte.
»Du weißt, wie es den Lügnern ergeht?« röchelte der Abt.
Ethlind nickte und sagte nach einem erneuten Rippenstoß mechanisch: »Ja, ehrwürdiger Vater.«
Erleichtert sah sie, daß der Greif aufgab. Es ging ihr wie dem Stalljungen, sie wollte nur noch fort von den blinden Augen. Aber gerade als sie davonschlüpfte, erzitterte die Brücke vor dem Klostertor unter Pferdegetrappel. Wider Willen neugierig, blieb sie stehen. Es war ein ganzer Zug, der sich durch das enge Tor drängte. Zuvorderst ritt ein greiser Mönch, dessen weiße Haare den Kopf über der schwarzen Kutte seltsam unsichtbar machten. Ehtlind erinnerte sich an ihn, und das mit Schaudern. Er war der Mann, der die Prügel überwacht hatte, die der Kranke aus Cathay bezogen hatte. Und jede Zahl, die ihm über die schiefen Lippen gekommen war, hatte ihm Freude bereitet. Zwanzig Schläge hatte der Abt angeordnet, dreiundzwanzig waren daraus geworden, und sie hätte schwören können – nicht aus Nachlässigkeit.
»Wer kommt?« bellte der Greif.
»Hagatheo. Und er hat diesen Lumpen Dobresit bei sich. Aber wie es aussieht …«
Ethlind interessierte sich nicht für die Männer, die auf denPferden und dem Karren saßen. Sie schlüpfte über den Hof zu dem Gästehaus, in dem man sie untergebracht hatte. Am besten wäre es, sich noch in derselben Stunde davonzumachen, aber sie wußte, daß sie es nicht übers Herz bringen würde, solange der Kranke in der Zelle litt. In der Tür des Lehmhauses drehte sie sich noch einmal um. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der greise Mönch sich auf ein Wort des Abtes umwandte und in ihre Richtung blickte.
6. Kapitel
Nienburg, April 1223
S ie hatten die Nacht im Freien verbracht, und Roswitha stellte seufzend fest, daß sie der Sünde erlegen war. Der Sünde des Neides nämlich. Ludger hatte es fertiggebracht, trotz der Kälte und des langsam einsetzenden Nieselregens, wie ein Säugling zu schlafen. Und nun, als er sich reckte und zur Saale hinabstieg, um Wasser in sein Gesicht zu spritzen, war er geradezu unverschämt munter. Unwillkürlich mußte sie an Bernhard von Aken denken, der den Morgen
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