Die sieben Häupter
hatte. Womöglich … Sie sah auf. »Wir müssen nach Nienburg.«
Forschend sah Ludger sie an. »So? Und warum?«
Dieser strenge Blick – ahnte der junge Repgow, daß sie den Drachensamen suchte wie er? »Nun, wollt Ihr den Zupan im Stich lassen? Wir haben ihm versprochen, sein Leben zu retten. Und was soll aus seiner Frau werden, aus seinen Töchtern und dem Sohn? Wir haben eine Ungerechtigkeit beobachtet, es ist unsere ritterliche Pflicht, den Schwachen zu beschützen!« Dobresit hatte möglicherweise den Drachensamen geraubt. Vieles sprach dafür: Der Senpekte, das Entsetzen des Dorfältesten bei seinem Eintreffen, der verwundete Bote, den man zuletzt auf einer der Straßen gesehen hatte, die Dobresits Männer von Zeit zu Zeit unsicher machten.
»Ihr habt recht. Dieser Hagatheo schüchtert uns nicht ein. Aber wir müssen fort von der Straße. Lieber gehe ich zu Fuß und führe das Pferd am Zügel, als daß ich mich von den Männern des Senpekten ergreifen lasse.«
Die Nacht schien neben der Straße bereits gelauert zu haben. Als Roswitha und Ludger den Weg verließen, kroch sie hinter Büschen und Bäumen hervor. Es dämmerte, während sie in weitem Bogen Borgesdorf umwanderten, dann an der Gabelung nach Leistorf stieg Dunkelheit wie Nebel aus den Feldern auf, streifte durch die Baumkronen der Wälder, flog hinauf zu den ersten Sternen. Der Mond begleitete die Wandernden; es sah aus, als stünde er nicht fest am Himmel, sondern liefe an ihrer Seite wie eine Laterne.
Ein Wiedehopf schrie seinen düsteren Ruf.
»Wißt Ihr«, begann Ludger nach langem Schweigen, »ich muß daran denken, was ich kürzlich zu Henner sagte, dem Sohn Heinrichs von Anhalt. Ich riet ihm, gut zu überlegen,gegen wen er die Klinge zieht. Er solle sich fragen, ob er seinen Gegner besiegen könne, weil ebensogut sein eigenes Blut fließen könne. – Hört ihr den Wiedehopf? Er verkündet Unheil.«
»Kennt Ihr den Abt aus Eurer Zeit in der Klosterschule?«
»Ich war nicht in Nienburg Schüler, sondern im Prämonstratenserkloster Gratia Dei bei Calbe, einige Stunden saaleaufwärts.«
»Prämonstratenser und Benediktiner sind sich feind, richtig?«
»Sagen wir es so: Es gibt Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Die Laienbrüder machen in beiden Klöstern die gleiche Arbeit. Sie pflegen den Garten, unterrichten, schreiben Bücher ab, pflegen Kranke. Aber dann gibt es entgegengesetzte Ansichten zu Augustinus und zum Leben der ersten Christen.« Er grinste; der Mond schien auf seine blanken Zähne. »Eigentlich muß man sich nur die Kleider ansehen: Benediktiner tragen schwarze Kutten, Prämonstratenser weiße Gewänder. Solche Dinge sagen etwas aus.«
»Denkt Ihr gern an Eure Zeit im Kloster zurück?«
»Ich war stolz auf die Kirche mit den spitzen Schieferdächern. Ihre Glocken! Sechs Töne geben sie von sich, und jeder biegt sich hundertfach, bevor er seinen Klang gefunden hat. Es hallt über den ganzen Ort. Und natürlich habe ich nicht nur den Glocken gelauscht, sondern auch mit Hingabe gelernt.«
Eine Weile noch redeten sie über Kindheitstage, dann kamen sie auf das Kloster zu sprechen. Sie berieten, wie es möglich sein könnte einzudringen, und fragten sich, ob der verletzte Fremde noch am Leben sein würde. Den Ortschaften entlang des Wegs wichen sie aus, um nicht Hagatheos Männern in die Hände zu fallen. Leistorf und Grimschleben umgingen sie im Osten. Roswitha hatte sich erinnert, daß man im Westen der Dörfer in gefährliche Sümpfe geriet.
Als sie am Saaleufer durch Taubnesseln und würzig riechenden Beifuß stapften – vom Wasser wehte scharfer Minzegeruch herüber – und über die wippenden Rohrkolben hinweg schon die Türme der Nienburger Klosterbasilika vor dem Nachthimmel erblickten, ließ Roswitha den Klepper anhalten und raunte: »Wartet.«
»Was gibt es?«
»Schaut Euch den Mond an.«
Die Scheibe leuchtete hell wie während der ganzen Nacht. Aber es war kein gelbes Licht mehr. Der Mond blutete.
»Was hat das zu bedeuten?« wisperte sie.
»Es sieht aus, als hinge er über dem Kloster.«
»Es ist eine Warnung.«
Während sie schauten, verwandelte sich die Farbe des Monds von Kupferrot in ein dunkles, schweres Blutrot, dann wurde er graubraun. Der Wind rauschte durch die herabhängenden Zweige der Weiden. Von Nienburg her knarrte ein Mühlrad. Roswitha erschauerte.
Ein Schatten erschien auf der Mondscheibe. Finsternis begann ihn zu verschlucken. Das Mondlichtglimmen auf den Wellen der Saale verschwand,
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