Die sieben Häupter
Die Glocken hatten schon vor geraumer Zeit zur Vesper geläutet. Aber Abt Gernot schien keine Notwenigkeit zu sehen, seine Befragung zu unterbrechen.
Ethlind erschrak bis in die Knochen, als der blinde Mann plötzlich losbrüllte: »Er weiß … also … nichts!« Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund. Der Abt, der Greif, wie sie ihn flüsternd bei der Essensausgabe oben im Hof genannt hatten, bebte vor Zorn. Er humpelte zu dem Gefangenen, den sie mit einer Ochsenkette an einen Holzpfeiler gefesselt hatten, und trat ihm in die Seite. Als würde das etwas nützen. Er hatte ihn doch schon mit Ruten prügeln lassen, und dennoch hatte der Kranke aus Cathay sich geweigert zu sprechen.
»Ihr tötet ihn, Herr«, flüsterte Ethlind.
Der Greif blickte sich zu ihr um. Es war unheimlich zu sehen, wie er sie anstarrte, obwohl seine Augen doch nurSchwarz erblickten. Vielleicht sah er auf eine Art, für die man keine Augen brauchte.
»Du hast ihn hierhergebracht.«
Ethlind nickte. Als der dicke Mönch, der sie und den Abt in das Loch begleitet hatte, den Ellbogen in ihre Seite stieß, murmelte sie hastig: »Ja, Herr.«
»Und er war verletzt. Du hast ihn verletzt im Graben eures Dorfs gefunden.«
Sie wiederholte, was sie schon mehrere Male gesagt hatte. Daß sie den Fremden morgens beim Schweineaustreiben am Fallgatter hatte liegen sehen, mit schrecklichen Wunden. Daß ihr Vater sich über den unliebsamen Gast geärgert hatte, den sie ihm ins Haus schleppte, und daß sie den Fremden schließlich auf dem Karren eines reisenden Händlers zum Kloster Nienburg geschafft hatte, in der Hoffnung, man würde dort seine Wunden heilen. »Ich wollte nur das Richtige tun, Herr.«
»Ehrwürdiger Vater. Das ist die rechte Ansprache.« In der Stimme des Greifs lag plötzlich eine Belustigung, die sie nicht begriff. »Weißt du, wer ihn verletzt hat?«
»Nein.«
»Aber ich weiß es. Er hat einen der Brüder dieses Klosters überfallen. Es gibt Zeugen dafür. Man hat gesehen, wie dieser Strauchdieb gemeinsam mit Bruder Notker auf der Straße von Bernburg nach Kleinzerbst unterwegs war. Die beiden hatten offenbar beschlossen, einen Teil des Weges gemeinsam zu gehen, denn sie unterhielten sich miteinander. Aber es war eine Kainsfreundschaft. Kurz vor Kleinzerbst hat der Kerl den heiligen Bruder ermordet.«
Ethlind blickte zu dem bleichen Mann im Stroh. Er war bei Bewußtsein, was sie wunderte, nach der Prügel. Sie sah, daß er sie beobachtete. In seinem Blick lag ein Flehen, das es ihr schwermachte, den Kopf abzuwenden. »Aber warum hätte er das tun sollen?«
»Gans! Um den Bruder auszurauben.«
»Er wurde doch selbst verletzt.«
»Auch ein Mönch läßt sich nicht ohne Gegenwehr erschlagen. Schon gar nicht Notker.« Verärgert trat der Abt erneut nach dem Kranken, und diesmal entfuhr ihm ein Schrei. »Wo, bei allen Teufeln, die dein sündiges Fleisch martern werden, sobald du diese Erde verläßt – wo hast du deine Beute versteckt?«
Der Mann im Stroh schüttelte den Kopf, was der dicke Mönch dem Blinden mit einem »Er leugnet weiter« übersetzte.
»Er muß es bei sich getragen haben. Niemand wirft ein … etwas so Wertvolles fort. Mädchen, hatte er Gelegenheit, ungesehen etwas beiseite zu schaffen, nachdem du ihn gefunden hattest?«
»Ganz sicher nicht, Herr.«
»Es geht um einen Beutel. Was er gestohlen hat, lag in einem Säckchen aus Rindsleder.«
Die Ketten rasselten, als der Gefangene versuchte, sich aufzusetzen. Er sagte nichts. Er war ein mutiger Mann, aber dennoch nur ein Mensch, und er fürchtete sich vor weiteren Schmerzen. Aber der Blick, mit dem er Ethlind unter den gesenkten Lider ansah, bettelte um Standhaftigkeit.
»Er hatte nur die Kleider bei sich, die er am Leib …« Ethlind stockte. Die Kleider und das Säckchen mit dem Drachensamen. Aber wenn es stimmte, was der Abt sagte, wenn der Mann aus Cathay den Mönch überfallen hatte und dabei schwer verletzt worden war – dann hätte er bestimmt nichts mehr in den Saum seines Mantels einnähen können. Woher hätte er auf der Landstraße auch Nadel und Faden nehmen sollen? Außerdem – hätte er mit seiner schweren Wunde die ruhige Hand gehabt, um eine so exakte Naht zu nähen, wie sie sie daheim aufgetrennt hatte? Nein, er war kein Straßenräuber und Mörder. Das fühlte sie ganz einfach. Was immer demMönch geraubt worden war – der arme Mensch, der jetzt dort in den Ketten hing, hatte es ihm nicht gestohlen. Es mußte also zwei Beutel geben.
Weitere Kostenlose Bücher