Die sieben Häupter
wo steckt dieses Pulver?«
»In einem Beutel …«
»Und wo ist dieser Beutel versteckt?«
Ludger mußte lächeln – auch auf die Gefahr hin, Pribislaw damit so zu reizen, daß er wirklich zustieß. »Das herauszufinden ist es ja, was uns alle antreibt und in Atem hält.« Und er erlaubte sich sogar einen Hauch von Ironie: »Schön, daß Ihr auch noch mitmachen wollt. Hoffentlich seid Ihr aus einem nicht so gebrechlichen Stoff wie andere.«
9. Kapitel
Am Scheideweg, April 1223
R oswitha rannte, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war. Die Furcht saß ihr im Nacken. Furcht vor dem Getrappel von Pferdehufen, welches ihr anzeigen würde, daß der Abt seine Männer losgeschickt hatte und diese vor ihr am Brunnen sein würden, um ihr zu rauben, was sie am meisten begehrte. Und Furcht vor dem, was sie zurückgelassen hatte.
Ihr Atem ging keuchend, ihre Beine wurden immer schwerer. Die Dunkelheit senkte sich auf die Landschaft, ließ Roswitha stolpern und zwang sie, sich in der Mitte der Straße zu halten. Doch sie verhüllte nicht die Bilder vor Roswithas innerem Auge: Ludger von Repgow, der sein Schwert zog und sich verzweifelt gegen eine Übermacht wehrte, die plötzlich aus den Büschen über ihn herfiel. Ihr war, als könnte sie seine Stimme hören, die nach ihr rief, dem Gefährten: »Konrad, hilf mir!«
Sie sah noch immer Ethlinds aufgerissene Augen, als Hagatheos Urteilsspruch sie zurück in den Hof gebannt hatte. Sie hatte sich an Roswithas Ärmel geklammert, als die Laienbrüder auf sie zugekommen waren. »Nimm mich mit«, hatte sie voll Panik geflüstert. »Ich weiß, wo das Säckchen ist.« Aber Roswitha hatte Ethlinds Arm abgeschüttelt und war losgelaufen. Sie hatte Ethlind zurückgelassen, fast ohne zu zögern, hatte sie allein gelassen mit der Angst, mit der Leiche des Pförtners im Gästehaus. Wo das Säckchen war, das wußte sie nun selbst. Und sie mußte sich beeilen.
Wie es Ethlind ergehen mochte? Würde man sie ergreifenund des Mordes anklagen? Und Ludger? Die Erinnerung an die Kerker des Klosters stieg in Roswitha auf. Sie wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel übers Gesicht, schniefte und zwang sich dazu weiterzulaufen. Sie war solche Anstrengungen nicht gewohnt. Aber das schlechte Gewissen und die Furcht hielten sie länger auf den Beinen, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Beinahe wäre sie zu weit gerannt. Im letzten Moment rissen die Wolken auf und erlaubten dem Mond, sein volles Licht über die Ruine zu ergießen, die sich am Scheideweg düster vor ihr erhob.
Roswitha hielt inne; ihre Lungen pumpten, ihr Mund schmeckte Blut. Doch über ihre feuchte Stirn wehte der laue Wind einer Frühlingsnacht, die den nahen Mai erahnen ließ. In der Natur war nichts zu spüren von dem Aufruhr, der in ihr tobte. Es summte und sirrte in den süß duftenden Wiesen rechts und links des Weges, und ein verschlafener Waldvogel schrie.
Langsam ging Roswitha auf das hölzerne Gerippe zu, das einmal das Dach eines großen Hofes gewesen sein mußte und nun unheimlich in den Himmel ragte, ein Bild des Verfalls. Undeutliche Schatten, Schwarz auf Schwarz, flogen dort und verrieten, daß Fledermäuse unterwegs waren. Sie schauderte. Schritt für Schritt kämpfte sie sich vom Weg zu der Ruine vor, durch hüfthohes Gestrüpp voller Kletten, wo, wie sie vermutete, einstmals der Gemüsegarten gelegen hatte. Es roch betäubend nach Holunder.
Das Haupthaus war nun ganz nahe, deutlich zeichneten sich die Umrisse der Scheune ab, das Gestrüpp wurde lichter, und Roswitha wollte gerade forscher ausschreiten, als ihr Fuß keinen Grund mehr fand. Mit einem Schrei stürzte sie ins Nichts.
Für einen Moment glaubte sie sich verloren. Aber Roswitha fiel nicht ins Leere, sondern schlug auf gemauertem Boden auf. Sie rappelte sich hoch, rieb ihre schmerzende Hüfte und stelltefest, daß sie in die ehemalige Tränke gestolpert sein mußte, einen flachen künstlichen Teich mit gepflastertem Boden, der nun ausgetrocknet und fast völlig überwuchert war. Fluchend hinkte sie weiter durch Brennesseln hindurch, die ihre Arme und Hände kräftig versengten.
Mit Kletten im Haar, blasenübersät und noch immer heftig atmend, stand sie schließlich in der Mitte des Hofes, froh um die Dunkelheit, die ihren barmherzigen Mantel über sie breitete. Nun war es bald geschafft, tröstete Roswitha sich, sie war beinahe am Ziel.
Sie schaute sich um. Erhob sich dort drüben nicht der gemauerte Bogen des Brunnens? Rasch ging
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