Die sieben Weltwunder
verhüllt von einem über dem Arm zusammengefalteten Mantel. Der Kopf ist vermutlich nach Kleinasien ausgerichtet gewesen, umgeben von einem goldenen Strahlenkranz: kaum eine Helios-Darstellung ohne dieses Attribut des Sonnengottes. Das Antlitz und die siebenstrahlige, der Sonne nachempfundene Krone des Gottes sind vermutlich vergoldet gewesen.
Nur eines gilt als sicher: Der Kopf des Helios ist wohl unverhältnismäßig groß gewesen, jedenfalls, was die üblichen anatomischen Proportionen angeht. Eine spätere Quelle behauptet, er habe ein Fassungsvermögen für zweiundzwanzig Fuder Weizen gehabt (das Fuder wird verschieden definiert: zwischen 750 und 1950 Liter, also 1000 Liter im Schnitt – das wären zweiundzwanzig Kubikmeter Inhalt). Dass der Kopf größer als normal dimensioniert gewesen sein muss, ist leicht verständlich: Bei der Höhe des Standbilds konnte er dem Betrachter am Boden nur so in natürlicher Größe erscheinen. Der Koloss sei wegen seiner Riesenhaftigkeit »überwältigend, wenn auch nicht gerade liebenswürdig« erschienen. Hätte er weit entfernt am Hafeneingang gestanden, wäre durch den weiten Abstand zu den Betrachtern eine Verschiebung der Proportionen überflüssig gewesen. Es ist übrigens auch nie von zwei Sockeln die Rede, sondern nur von einem.
Über die Haltung der Arme und Beine wird in den antiken Schilderungen nichts gesagt: Weder, dass der Sonnengott eine Fackel getragen noch dass er gar ein Leuchtfeuer hoch über dem Kopf gehalten hätte.
Sind die effektvoll gespreizten Beine somit ein reines Phantasieprodukt aus der beginnenden Neuzeit? Das wiederum wäre zuviel behauptet. Die antiken Texte sind mehrdeutig und verschieden auszulegen. Auf der Weiheinschrift, so ist überliefert, sei zu lesen gewesen: »Fest auf der Erde erbaute es (das Volk von Rhodos) ihn und hoch über’m Meer, dass er ein herrliches Licht fronloser Freiheit ihm sei.«
Der Koloss von Rhodos, ohne Fackel. (Rekonstruktionsversuch von H. Mayron)
Das »hoch über’m Meer« muss nicht »am Wasser« oder »im Wasser«, es kann auch »auf einem erhöhten Punkt auf der Insel« bedeuten. Das »herrliche Licht« muss nicht zwangsläufig ein Leuchtfeuer bedeuten; der Verfasser der Inschrift kann auch das vergoldete Gesicht des Helios gemeint haben. Allerdings gibt es eine Aussage von Plutarch, der zufolge Statuen besonders eindrucksvoll erscheinen, wenn sie eine Person mit weitem Schritt darstellen. Plutarch erwähnt das im Zusammenhang mit »Kolossen«, wenn auch allgemein, nicht auf den Helios von Rhodos gemünzt. Und »Koloss« bedeutet ursprünglich ganz einfach »Bildsäule«. Es war kein Titel, den nur die Statue von Rhodos hatte. Doch erst das mächtige Standbild von Rhodos gab dem »Koloss« die Bedeutung des Riesenhaften, eben des Kolossalen.
Wahrscheinlich war der Sonnengott unbekleidet dargestellt. Möglicherweise hat er eine Lanze, vielleicht auch einen Bogen gehalten, dazu einen Köcher mit Pfeilen getragen. Dass man im Innern der Statue bis zum Hals habe emporsteigen können, wird später berichtet, widerspricht jedoch anderen Überlieferungen, nach denen das Innere vollgestopft mit Eisen und Steinen gewesen sein soll. Trotzdem wird es eine Art Aufgang gegeben haben, eine äußerst schmale leiterähnliche Treppe sorgte im Inneren für die Möglichkeit, Reparaturen vorzunehmen.
Ob der Koloss jedoch auch der schönen Aussicht wegen bestiegen wurde – wie die New Yorker Freiheitsstatue, das Hermannsdenkmal und die Münchner Bavaria –, kann nicht geklärt werden. Im »kolossalen« Standbild der Bavaria, 1850 von Ludwig Michael von Schwanthaler geschaffen, ist bei nur zwanzigeinhalb Meter Höhe genügend Platz für eine Wendeltreppe, im Kopf der Bavaria befindet sich sogar eine Sitzbank.
Wir dürfen also annehmen, dass der Weltwunder-Koloss auf einem erhöhten Platz über der Stadt stand, um so schon von weitem, vom Meer her sichtbar zu sein: ein kraftvoller Helios, der vielleicht ausschritt, wenn auch nicht allzu eilig, da dies seiner Würde wohl nicht entsprochen hätte.
Rekonstruktion des umgestürzten Koloss.
(Nach dem Bericht Strabons ist die Figur an den Knien umgeknickt.)
D ER UMGESTÜRZTE R IESE
Das Schicksal des vielbestaunten Weltwunders ist bekannt: Nur 66 Jahre nach seiner Fertigstellung, 224 v. Chr., stürzte ein Erdbeben den Koloss und vernichtete gleichzeitig Teile der Mauern und Hafenmolen von Rhodos. Strabon berichtet, er sei an den Knien abgebrochen. Man habe ihn
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