Die sieben Weltwunder
liegengelassen, denn ein Orakelspruch habe von der Wiederaufrichtung abgeraten.
Doch auch der gestürzte Koloss galt Strabon noch »als eine der Sieben Sehenswürdigkeiten«. Plinius betonte, der Sonnenkoloss errege »selbst so noch im Daliegen das Staunen aller, die ihn sehen«. Wie immer gibt er prägnante Einzelheiten: Man habe die Felsblöcke, mit denen der Koloss von innen ausbalanciert gewesen war, sehen können. Und er habe 300 Talente Silber gekostet (umgerechnet heute fast eine Million Euro).
Auch diese Schilderungen sprechen dafür, dass der Koloss an bevorzugter Stelle, auf einer Höhe über der Stadt, vielleicht auf dem höchsten Punkt, nicht aber über der Hafeneinfahrt gestanden hat. Wäre der Koloss auf der Hafenmole errichtet gewesen, hätte er wohl ins Wasser stürzen müssen. Die Trümmer hätten die ein- und auslaufenden Schiffe gefährdet; man hätte sie also wohl geborgen.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Sturz des Koloss brach auch die Freiheit und Macht von Rhodos zusammen. Ein knappes Jahrtausend blieb der gefällte Riese an Ort und Stelle liegen. Im Jahr 653 n. Chr., nach der Eroberung der Insel durch die Araber, wurden die stehengebliebenen Reste des Weltwunders vom Sockel gerissen; die Sarazenen raubten das Erz und schleppten es nach Syrien. Dort soll ein Händler die bronzene Haut des Sonnengottes gekauft, in neunhundert Teile zerlegt und auf Kamelen zur Einschmelzung nach Syrien transportiert haben.
D IE R EKONSTRUKTION DURCH H ERBERT M ARYON
Als im Jahr 1932 in Rhodos ein Helios-Relief aus Stein gefunden wurde, unternahm der Engländer Herbert Maryon einen erneuten Rekonstruktionsversuch. Das Relief, von dem nur der obere Teil erhalten ist, stellt ohne Zweifel Helios dar, der mit der rechten Hand die Augen beschattet und nach rechts in die Ferne blickt. Über seinem linken Arm liegt – wie gerade noch deutlich zu erkennen ist – der Bausch seines Gewandes.
Herbert Maryon ging nun von folgender Tatsache aus: »Der Koloß hatte eine Höhe von 120 Fuß, was 36 Metern entspricht, und an Material wurden 12,5 Tonnen Bronze und 7,5 Tonnen Eisen verbraucht.« Die Berechnung des Verhältnisses der Oberfläche zum verwendeten Material führte ihn zu der Feststellung, dass die Stärke der bronzenen Außenhaut nicht mehr als 1,6 Millimeter betragen haben kann. Maryon kommt deshalb zu dem Schluss, dass die einzelnen Teile, aus denen der Koloss zusammengesetzt war, nicht – wie bisher angenommen – gegossen, sondern gehämmert worden seien. Die Standhaftigkeit der Figur, so meint Maryon, sei einzig und allein von ihrem Kern bestimmt worden. Diese Behauptung stimmt nicht nur mit der Schilderung des Philon von Byzanz überein, sondern auch mit den Berichten, die Plinius nach dem Sturz des Kolosses in der »Naturalis Historia« veröffentlichte: »Große Höhlungen gähnten aus den zerbrochenen Gliedern, und innen drin sieht man Steine von großer Masse, durch deren Gewicht der Meister den Koloß standfest machte.«
Bisher hat man den Koloss von Rhodos auf keiner Münze identifizierbar abgebildet gefunden. Das ist leicht zu erklären: Auch die Abbildung des monumental thronenden Zeus von Olympia hat in der Verkleinerung auf einer Münze nicht befriedigen können. Ein Münzbild ist nicht geeignet, etwas Monumentales zu zeigen, und man hatte sich damit begnügt, auf Münzen nur noch das Gesicht des olympischen Zeus wiederzugeben. Der Koloss von Rhodos war erheblich größer als der Zeus von Olympia, weniger majestätisch als riesenhaft. Die Vermutung liegt nahe, dass das Haupt des Helios auf den rhodischen Münzen, das kraftvoll, sogar etwas grob erscheint, den Kopf des Weltwunders wiedergibt. Vielleicht sind diese Münzen sogar zur Feier der Einweihung geprägt worden. Dass das Rätsel nirgendwo ganz gelöst werden konnte, trägt mit zu der Faszination bei, die der lange verschwundene Koloss von Rhodos bis auf den heutigen Tag ausübt.
F ASZINATION BIS HEUTE
Trotz der vielen Bruchstücke einer disparaten Überlieferung: Niemand hat ein – wenn auch noch so kleines – originales Stück des verschwundenen Kolosses auffinden können oder doch so etwas wie einen Fußabdruck der übermächtigen Figur auszugraben vermocht. Gleichwohl werden noch heute alljährlich unzählige Postkarten mit dem berühmten Bild in alle Welt versandt, ungezählte »kleine Kolosse« als Souvenir von Ferien auf Rhodos mit nach Hause genommen, als sei der Koloss eine Sehenswürdigkeit, die heute noch zu besichtigen wäre,
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