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Die siebte Gemeinde (German Edition)

Die siebte Gemeinde (German Edition)

Titel: Die siebte Gemeinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Link
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ihm, sondern Viktorianah. Er war überrascht, sie vor sich zu sehen, da sie ihn bisher gemieden hatte. Schüchtern hatte sie ihren Kopf in seiner Anwesenheit gesenkt oder verließ den Raum, sobald er ihn betrat. Doch in diesem Moment stand sie selbstbewusst vor ihm und schaute neugierig auf ihn herab.
    Arusch musste genauer hinschauen, um Viktorianah überhaupt zu erkennen. Zum ersten Mal hatte sie ihre Leinenhaube abgelegt, und ihre vollen schwarzen schulterlangen Haare kamen zum Vorschein. Trotz der harten Arbeit in der Sonne war ihre Gesichtshaut kaum rissig, sondern sanft und rein. Schwache dunkle Ränder zeichneten sich unter ihren Augen ab, von denen man keinerlei Notiz nahm, da ihre dunkelbraunen Augen über allem Schlechten empor stachen. Abgerundet wurde ihr nahezu perfektes Antlitz durch eine zierliche sprossenübersäte Nase.
    Arusch schluckte. Seit Monaten hatte er keinen Blick mehr auf eine hübsche Frau werfen können. Unweigerlich musste er an Cyra denken, die er in Edessa hatte zurücklassen müssen. Auch sie hatte eine schwarze Haarpracht wie Viktorianah. Die Erinnerung an seine Versprochene gab ihm einen schmerzhaften Stich, und ein Seufzer entfuhr ihm.
    »Arusch, was sind das für Papiere dort?«, wiederholte Viktorianah ihre Frage.
    Arusch schüttelte irritiert den letzten Gedanken an Cyra ab. »Das, äh …«, stotterte er, »... das sind nur ein paar Aufzeichnungen, die ich während meiner Reise nach Konstantinopel niedergeschrieben habe.«
    »Kannst du es mir vorlesen?«, fragte sie und ließ sich neben ihm nieder. »Ich kann nicht lesen. Das hat mir bisher niemand beigebracht.«
    »Ich bin überrascht«, antwortete er und kratzte sich nervös am Kopf. »Wie kommt es, dass dich das interessiert?«
    Viktorianah rückte etwas von Arusch ab, um ihm besser in die Augen sehen zu können. »Du bist ein stattlicher Mann«, begann sie. »Da du schreiben kannst, musst du auch schlau sein. Du hast trotz des Krieges Solidos bei dir, was mir sagt, dass du nicht arm zu sein scheinst, und doch nimmst du freiwillig einen Weg auf dich, um in diese Stadt zu reisen. Jeder an diesem Ort wäre froh, wenn er Konstantinopel verlassen könnte, doch du kommst ohne Not hierher.« Sie nickte in Richtung der Dokumente. »Wenn dort steht, was dich dazu getrieben hat hierzubleiben, dann würde ich es gerne hören. Kannst du es mir nun vorlesen, oder nicht?«, wiederholte sie erneut. »Oder muss ich mir erst jemanden suchen, der mir das Lesen beibringt?« Ein verschmitztes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
    Arusch schüttelte den Kopf. »Wenn du wissen möchtest, warum ich nach Konstantinopel gereist bin, warum fragst du mich dann nicht? Um das zu erfahren, muss man nicht den Inhalt dieser Dokumente kennen.«
    »Ich weiß, dass du auf der Suche nach einem Leichentuch bist. Pardus hat es uns erzählt. Aber ich glaube nicht, dass das der einzige Grund sein soll. Es sei denn, dieses Tuch ist so wertvoll, dass es sich lohnt, dafür zu sterben.«
    »Dir die gesamte Geschichte zu erklären, würde Tage dauern. Das Tuch ist nur ein Teil meiner Mission, es wurde meiner Familie vor etwa 250 Jahren gestohlen.«
    Er wollte ihr so wenig wie möglich erzählen. Je weniger Viktorianahs Familie von seiner Aufgabe wusste, desto sicherer waren sie. Während er herumdruckste und seine Blätter planlos sortierte, setzte sie sich näher an ihn heran. Sie beugte sich nach vorne, um einen Blick auf das obere Blatt werfen zu können. Obwohl ihre Kleider staubig und ihre Hände voll mit Ruß aus der Feuerstelle waren, duftete ihr Körper wie eine frisch gepflückte Blume. Eine dieser roten, dessen Name ihm nicht einfiel.
    »Ich habe Zeit«, sagte Viktorianah und lehnte sich zurück gegen die Wand.
    »Wie?«
    »Ich habe Zeit«, wiederholte sie. »Du hast gesagt, es würde Tage dauern, um mir die Geschichte zu erklären. Und ich habe gesagt, dass ich Zeit habe.«
    »Musst du denn nicht deiner Schwester helfen?«
    »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, haben wir kein Material mehr, um auch nur einen einzigen Korb zu flechten. Petronia konnte weder Zweige noch vernünftiges Holz in der Stadt auftreiben. Außerdem macht das ohnehin keinen Sinn, da kein Mensch daran interessiert ist, einen Korb zu kaufen. Die Leute haben nicht mal Geld für Lebensmittel.«
    »Oh«, rief Arusch erstaunt. »Das habe ich noch gar nicht gesehen. Warum habt ihr nichts gesagt? Ich könnte versuchen, Material zu beschaffen.«
    »Weil wir noch nicht

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