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Die siebte Gemeinde (German Edition)

Die siebte Gemeinde (German Edition)

Titel: Die siebte Gemeinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Link
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unteren Stockwerk zu ihrem Morgengebet ansetzten. Er fühlte neben sich und stellte fest, dass der Platz kalt und verlassen war. Ein kurzer Schauder überkam ihn. Weniger jagte ihm die Einsamkeit Angst ein, nichts anderes war er seit über einem Jahr gewohnt. Nein, vielmehr verwirrte ihn das leise Davonstehlen von Viktorianah, ohne dass er es bemerkt hatte. Am gestrigen Abend war sie noch in seinen Armen eingeschlafen, musste sich aber irgendwann in der Nacht zurück zu ihren Schwestern geschlichen haben. Arusch erinnerte sich, wie sie sich eng an ihn herangesetzt hatte und fasziniert über seine Schulter hinweg auf den Boden stierte, wo die Dokumentenrolle ausgebreitet vor ihnen lag.
    »Das hier«, hatte er ihr erklärt und auf die oberste Seite getippt, »ist ein Brief, der vor langer Zeit an meine Heimatgemeinde geschrieben wurde. Er ist über eintausend Jahre alt.«
    »Was ist so Besonderes an diesem Brief«, hatte sie gefragt.
    »Bist du in Konstantinopel in die Kirche gegangen?«
    Viktorianah nickte. »Ich habe nur nie etwas von dem verstanden, was dort gesprochen wurde.« Sie deutete nach unten. »Auch nicht von dem, was die Mönche vorhin gesungen haben.«
    Arusch lächelte »Das ist Latein, die Sprache Roms. Die Heilige Schrift, die Bibel, so wie sie die Mönche bei sich tragen, wird auf Latein gelesen.«
    »Und was ist das für eine Schrift?«, fragte Viktorianah neugierig und tippte auf das Blatt. »Ist das auch Latein? Kannst du es mir vorlesen?«
    »Nein, das ist griechisch«, hatte er geantwortet. »Eine uralte Art unserer Sprache. Sie hat sich in den letzten tausend Jahren etwas verändert. Wenn du möchtest, kann ich es dir trotzdem vorlesen. Ich weiß, wie man es lesen muss. Mein Vater hat es mir beigebracht.«
    Imponiert hatte sie ihm von unten her in die Augen geblickt und ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Arusch hatte sich das Dokument auf die Beine gezogen.
    »So spricht Er«, hatte er zu lesen begonnen, »der, der Amen heißt, der treue und zuverlässige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes. Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß. Weil du aber lau bist …«, in diesem Moment hatte Arusch ein Zucken neben sich verspürt, und stellte fest, dass Viktorianah eingeschlummert war. Lächelnd griff er nach seiner Leinendecke, zog sie über ihre Beine und packte das Dokument zurück in den Beutel. In der geborgenen Wärme, die ihr Körper ausstrahlte und dem seichten Gesang der Mönche war auch er kurz darauf eingeschlafen.
    Jetzt, am frühen Morgen, konnte er sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Stets war er im Schlaf darauf gefasst, sein Leben zu verteidigen und war beim leisesten Knacken nach oben geschreckt. Umso mehr verblüffte es ihn, nicht einen Laut vernommen zu haben, als Viktorianah in verlassen hatte. Für einen Augenblick zweifelte er an sich und der Fähigkeit, die Familie beschützen zu können.
    Noch leicht benommen schaute er in die Ecke, wo Pardus hätte schlafen sollen, doch dieser Platz war leer.
    »Gott sei Dank«, murmelte er erleichtert, »kaum auszudenken, wenn es dem gelungen wäre ins Zimmer zu schleichen, ohne dass ich es bemerkt hätte.«
    Arusch erhob sich ächzend von seinem Platz und blickte durch die offen stehende Tür ins nebenan liegende Zimmer. Dort lag Pardus rücklings auf dem kahlen Fußboden und schnarchte mit offenem Mund vor sich hin. Zwei der Mädchen lagen vor ihm und hatten ihre nackten Füße auf seinem Bauch gelegt. Die Kinder drehten sich im Schlaf hin und her und gaben der auf- und absinkenden Wampe immer wieder einen leichten Tritt. Arusch huschte ein Grinsen übers Gesicht und begab sich über die knarrenden Holzbohlen hinweg zur außen liegenden Stiege ins untere Stockwerk.
    Die Mönche hatten ihren Gesang mittlerweile beendet und stimmten zu einem Gebet an. Um die Geistlichen nicht zu beleidigen, bekreuzigte sich Arusch vor allen sichtbar und kniete sich mit gesenktem Haupt am Rande des Raumes nieder. Einer der Mönche drehte sich um und zwinkerte ihm zu. Während Arusch den Psalmen der Zisterzienser lauschte, dachte er darüber nach, wie er vorgehen sollte. Auf keinen Fall wollte er Petronias, Bores und Viktorianahs Familie, die ihm so sehr ans Herz gewachsen war, im Stich lassen, doch ebenso wenig konnte er seine Mission aufgeben. Er war so nah dran. Unter immer lauter werdenden Bittgebeten der Mönche beschloss er, zumindest so lange mit seiner

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