Die siebte Maske
Höchstwahrscheinlich waren die Geschworenen bereit und willens, den Schuldspruch über seinen Mandanten zu verkünden. Zwar befanden sie sich erst kaum einen Tag in Klausur, aber Gerüchte waren durch die verschlossene Tür gesickert und hatten sich in den Korridoren des Gerichtsgebäudes verbreitet. Die Geschworenen hatten ihre kurze Beratung abgeschlossen und waren, so hieß es, zu einer einstimmigen Auffassung gelangt. Und Mike hatte ein ganz bestimmtes Gefühl, was das Urteil betraf, das sie dem Gericht bekanntgeben würden.
»He«, sagte Nancy.
Mike setzte sich auf und erblickte seine Frau; sie hatte ein Auge geschlossen und beobachtete ihn neugierig mit dem anderen. Ihr langes Haar war auf das Kissen drapiert wie auf einem Gemälde von Tizian. Mike grinste und
fühlte sich ein bißchen wohler. Er war drauf und dran, einen wichtigen Fall zu verlieren; aber wenigstens hatte er eine Frau, die schon am Morgen schön anzuschauen war.
»Weißt du was?« sagte er. »Du siehst aus wie eine einäugige Göttin.«
»Wie spät ist es?«
»Fast sieben. Zeit für Göttinnen, aufzustehen und das Frühstück zu machen.«
»Seit wann haben Göttinnen Küchendienst?« Das offene Auge schloß sich, Nancy stöhnte wohlig und drehte sich auf die andere Seite. Dann war sie plötzlich hellwach und setzte sich auf. »Großer Gott, es ist heute, wie?«
»Ja«, sagte er und verzog das Gesicht. »Gib dem Verurteilten was Herzhaftes zu essen.«
»Ach Mike, sprich nicht so. Noch ist es nicht heraus, daß du verloren hast.«
»Mit der Zeit kriegt man einen Riecher für Geschworene«, meinte Mike. »Und in diesem Fall sind sie auf eine Verurteilung aus, das spüre ich. Aber bitte – vielleicht irre ich mich. Vielleicht hat das Mitleid die liebe alte Dame in der zweiten Reihe überwältigt.«
»Es wäre doch immerhin möglich.«
»Wahrscheinlich hat gerade sie als erste ›schuldig‹ gesagt!«
Nancy war aufgestanden und in einen blauen Morgenrock geschlüpft. Während sie den Gürtel um die schmale Taille schlang, sah sie ihren Mann mit Schmollmund und vorwurfsvollen Augen an.
»Das sieht dir gar nicht ähnlich, Mike. Du hast noch nie die Flinte vorzeitig ins Korn geworfen.«
»Von vorzeitig kann keine Rede sein. Der Prozeß ist gelaufen.«
»Aber ich will nicht, daß du wie ein geprügelter Hund in den Gerichtssaal schleichst. Du sollst mit hocherhobenem Kopf hineingehen.«
Er grinste. »Darauf kommt es gar nicht an. Der Einmarsch der Geschworenen – der ist wichtig.«
»Mir kommt es darauf an«, sagte Nancy. »Komm, versprich mir’s. Versprich mir’s – oder mach dir dein Frühstück selbst.«
Mike lachte, wirbelte sie am Gürtel ihres Morgenrocks herum und küßte sie aufs Kinn. »Versprochen«, sagte er.
Er mußte sich zwingen, daran zu denken, als er am Tisch des Verteidigers Platz nahm. Die Gerüchte über eine schnelle Entscheidung hatten dafür gesorgt, daß der Gerichtssaal voll war. Es gab keinen freien Sitz. Der Fall Davis hatte einige sensationelle Aspekte, obwohl der Angeklagte nichts weiter war als ein einfacher Automatenverkäufer. Davis hatte das mutmaßliche Verbrechen des Totschlags wegen einer schönen, ebenfalls mutmaßlichen Blonden begangen. Seine Frau hatte ihn in einem Anfall von Eifersucht der Polizei ausgeliefert. Die Umstände waren danach, ein ausverkauftes Haus zu garantieren, desgleichen volle Anteilnahme der Presse von Monticello sowie der überregionalen Nachrichtenagenturen. Sogar Joe Pollock, Nancys Vater, Chefredakteur der ›Monticello News‹, hatte seinen besten Reporter geschickt, und Joe hatte eine Abneigung gegen breit ausgewalzte Gerichtsberichte.
Aber die meisten Reporter waren gar nicht so sehr an Davis interessiert als vielmehr an seinem Anwalt. Das Ansehen, das Mike Karr im ganzen Land genoß, war für sie der bedeutsamste Aspekt des Prozesses. Warum hatte einer der berühmtesten Strafverteidiger des Landes dieses
Ansehen aufs Spiel gesetzt – für einen Automatenverkäufer, der mit seinem erbärmlichen Liebesleben nicht zu Rande kam? Mike war die Antwort darauf zunächst sehr einfach vorgekommen. Seiner Überzeugung nach war Davis unschuldig.
Mike blickte sich um. Solche Zuschauermengen hatte er sich als Student in seinen Wunschträumen ausgemalt. Aber während er so dasaß am Verteidigertisch und sich an Nancys Ermahnung erinnerte, den Kopf nicht hängen zu lassen, dachte er, daß er sich damals immer auf der Gewinnerseite gesehen hatte.
Richter Klinger betrat den
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