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Die siebte Maske

Die siebte Maske

Titel: Die siebte Maske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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ersten Ehejahrs hatte es ihnen nichts ausgemacht. Jetzt, im zweiten, schien es allzuviel auszumachen.
    Wie gesagt, Walter fehlte ihr, und sie war betrunken und entschlossen, ihn einfach zu becircen. Adrienne ging ins Arbeitszimmer und fand Walter. Er war tot.
    Daran bestand für sie nicht der geringste Zweifel. Die Idee, Herz- und Pulsschlag zu kontrollieren, ihm einen Spiegel vor den Mund zu halten, kam ihr gar nicht in den Sinn. Walter war tot, daran gab es nichts zu rütteln. Er saß am Schreibtisch. Sein Kopf, zerschmettert und blutverschmiert, lag auf dem grünen Löschpapier, das sich rot gefärbt hatte. Auf dem Boden lag ein Revolver, den Adrienne kannte. Es war Walters eigener zur Selbstverteidigung. Sie erinnerte sich, wie lässig er ihr die Waffe gezeigt hatte. »Für den Fall eines Falles«, hatte er gesagt. Für welchen Fall, Walter? dachte sie und wunderte sich, weil sie so gar nicht reagierte.
    Dann erblickte sie die auf dem Teppich verstreuten Papiere, und ohne zu wissen warum, starrte sie sie an. Auf dem Schreibtisch war nur ein Stück Papier zurückgeblieben, festgeklemmt unter den Fingern von Walters linker Hand. Es zog sie magisch an. Sie ahnte, was es sein mußte.
    Es war eine handgeschriebene Mitteilung in Walters vertrauten Schriftzügen, bewundernswert präzise für einen Mann, der im Begriff war, sich das Leben zu nehmen.
    Die Nachricht lautete: ›Adrienne, Liebste, verzeih mir.‹
    Jetzt kam das Entsetzen. Die handgeschriebenen Worte, dieses Bindeglied zwischen dem Lebenden und dem Toten, beschworen die Wirklichkeit wie einen Dämonen. Adrienne bedeckte die Ohren, nicht die Augen, mit den Händen und schrie lautlos. Dann machte sie kehrt und rannte zur Tür.
    »Julian!« kreischte sie und wollte auch noch nach der Haushälterin rufen, als ihr einfiel, daß das nichts nützte; Julian hatte seinen freien Abend, Mrs. Merrow lag mit einer Venenentzündung im Krankenhaus.
    Es gab niemanden, den sie rufen konnte. Das Telefon kam ihr nicht in den Sinn. Sie sank auf einen der hochlehnigen Stühle im Vorraum und verbarg das Gesicht in der Armbeuge. Sie schluchzte und zitterte. Sie wünschte, ihr Vater wäre hier. Er wohnte nur eine Viertelstunde entfernt; er würde sofort kommen, wenn sie ihn anriefe – aber daran dachte sie nicht. Sie saß nur auf dem Stuhl und schluchzte, und dabei kam ihr zu Bewußtsein, daß sie Tränen der Angst weinte, nicht Tränen des Schmerzes.
    Der Schmerz würde noch früh genug kommen.
    Das war ein bewußter Gedanke, und er brachte die Tränen zum Versiegen. Sie blickte zurück auf die offene Tür des Arbeitszimmers.
    Er ist tot, dachte sie.
    Er hat sich umgebracht.
    Und jetzt – was wird jetzt aus uns?
    Zu ihrer Ehre dachte sie nicht ›mir‹.
    Langsam stand sie auf und zwang sich, zur Tür des Arbeitszimmers zurückzugehen. Sie spähte hinein, fast neugierig, als wolle sie fragen: Ist alles noch da?
    Es war da.
    Ein Flackern trat in ihre Augen; die Pupillen schienen sich zusammenzuziehen, sich auszudehnen, sich wieder zusammenzuziehen. Ihre Lippen wurden dünn. Sie preßte die Hände in die Hüften und betrat aufs neue das Zimmer. Sie ging zum Schreibtisch, bückte sich, ohne die Leiche anzusehen, und hob den Revolver auf.
    Sie behielt ihn in der linken Hand, trat auf die andere Seite und zog Walters kurze handschriftliche Mitteilung unter seinen ausgebreiteten Fingern hervor.
    Das Kaminfeuer war noch nicht erloschen. Walter hatte gern Feuer gehabt, sogar an Frühlingsabenden. Vier kräftige Holzscheite waren zu glühender Asche zerfallen, strahlten noch Hitze aus.
    Sie beugte sich zum Kamin und hielt zögernd eine Ecke des Papiers hinein. Ein Rauchfaden leckte daran. Dann ging das Papier in Flammen auf.
    Sie verließ das Zimmer erst, als die Asche sich mit der Glut vermengt hatte.

2
    M ikeKarr erwachte schon zehn Minuten, bevor der Wecker rasseln sollte. Er wußte, er war einem bedrückenden Traum entkommen, aber an Einzelheiten konnte er sich nicht erinnern. Der Traum hatte sich nicht im Gerichtssaal abgespielt; er war nicht von Gespenstern in schwarzen Roben bevölkert gewesen, nicht von Skeletten auf der Geschworenenbank. Die Ereignisse seines Alltags schienen sich niemals in seine Träume zu verirren. Aber Mike wachte auf und fühlte sich noch immer bedrückt. Warum?
    Plötzlich fiel es ihm ein. Das flaue Gefühl im Magen wurde von keinem Traum verursacht, sondern von etwas Wirklichem. Heute vormittag um zehn Uhr mußte er wieder im Gerichtssaal erscheinen.

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