Die Siechenmagd
mündet und als Abtritt dient, sorgt zusätzlich noch für eisige Zugluft.
In der vergangenen Zeit hatte sie ständig unter großem Hunger und Durst gelitten, was inzwischen etwas besser geworden ist, denn in regelmäßigen Abständen öffnet sich die kleine vergitterte Luke in der Decke und die Wärter lassen an einem Seil Wasser und Brot für die Gefangenen herunter. Diesen Augenblicken fiebert Mäu förmlich entgegen und stürzt sich dann wie ein ausgehungertes Tier auf das harte, meist verschimmelte Brot. An manchen Tagen erhalten sie sogar, einem Wunder gleich, einen kleinen Laib frisches Roggenbrot und eine Speckschwarte dazu, was der Ausgehungerten wie eine Gottesgabe erscheint. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine mildtätige Spende der wohlhabenden Frankfurter Bürgerin Katharina Hilliger, die den Gefangenen in den Gefängnistürmen zugute kommen soll. Gelegentlich werden auch die Insassen der Verliese damit bedacht. Ist dadurch wenigstens für kurze Zeit der vordringlichste Hunger gestillt, so wird doch die Eiseskälte im Brückenloch während der Wintermonate zu einer fast schon lebensbedrohlichen Erschwernis für die Gefangenen. Mäu und Annchen schlottern am ganzen Leib, Hände und Füße sind schon wie abgestorben. Jedesmal, wenn sich für kurze Zeit die Deckenluke öffnet, fleht Mäu verzweifelt nach einer warmen Decke, sie erfriere sonst hier unten.
Eines Tages lassen sich die Lochmeister tatsächlich erweichen und werfen ein großes Schafsfell durch die Falltür.
„Das ist eine Spende vom Hospital zum Heiligen Geist für die Unsinnigen im Brückenloch“, erläutert einer der Wärter.
„Ich bin aber nicht unsinnig!“, ruft Mäu aufgebracht in seine Richtung, aber die Klappe ist schon wieder geschlossen und die Schritte über ihr entfernen sich bereits.
Sogleich umhüllt sich Mäu mit dem dicken, weichen Pelz und merkt bald, wie es ihr langsam etwas wärmer wird. Als ihr Blick indessen auf ihre Mitgefangene fällt, die auf dem blanken Lehmboden hockt und vor Kälte mit den Zähnen klappert, zögert sie kurz und lädt schließlich die junge Frau ein, das Fell mit ihr zu teilen. Annchen kriecht auch sogleich zu ihr unter das Schafsfell und schmiegt vertrauensselig den Kopf an Mäus Brust, verfällt noch kurz in ihren üblichen Singsang, um bald darauf friedlich einzuschlummern. Seltsamerweise ist Mäu die körperliche Nähe des törichten Mädchens nicht unangenehm, im Gegenteil, der wärmende Körper und die ruhigen Atemgeräusche Annchens verschaffen ihr sogar ein gewisses Wohlbehagen. Die Lichtstrahlen aus der Luke fallen günstig und so hat sie zum ersten Mal Gelegenheit, das Gesicht der jungen Frau genauer zu betrachten. Die meiste Zeit im Wahn verzerrt, sind ihre Gesichtszüge nun jedoch ganz friedvoll und entspannt, und Mäu stellt mit Erstaunen fest, dass Annchen unter ihrer Dreckkruste eigentlich sehr schön ist. Unwillkürlich fühlt sie sich dabei an die anmutigen Züge Marthas erinnert und wird von einer tiefen Wehmut erfasst. Auch sie scheint mich vergessen zu haben! Bei dem Gedanken daran, in ihrem finsteren Kerker zu verrotten, von aller Welt im Stich gelassen, weint Mäu bittere Tränen, die erst versiegen, als ihr die Worte ihrer Muhme durch den Sinn gehen, sie dürfe sich niemals aufgeben. Es kommt ihr fast so vor, als höre sie deutlich Marthas Stimme, die sie immer wieder ermahnt, tapfer zu bleiben. Naja, vielleicht geht es mir ja bald so, wie der Törin neben mir und ich verliere den Verstand, denkt sie grimmig, entschließt sich aber trotzig, jeglichen Anfängen zu wehren und beginnt zu beten. Bittet ihren Schutzengel, dass er ihr beistehen, sie vor dem Wahnsinn und dem Tod bewahren und sie bald aus ihrem Kerker befreien möge.
Mensch, so oft wie ich schon zu dir gebetet hob, wird es doch langsam mal Zeit, dass du endlich was machst! , murmelt Mäu im Anschluss an ihr Gebet und blickt nachdenklich zur Deckenluke. Stundenlang sitzt sie manchmal so da, betrachtet die fahlen Lichtstrahlen, die durch das Lukengitter fallen und ergibt sich dabei den unterschiedlichsten Tagträumen.
Eine Woche später erscheint Annchen auf einmal wie ausgewechselt. Mäu kann es gar nicht fassen, dass dieselbe Frau, die ihr nun so ruhig und gesittet gegenübersitzt und mit ihr das Brot teilt, die gleiche Person sein soll, unter deren unseligen Ausbrüchen sie die ganze Zeit so gelitten hat. Gestern noch verwirrt und konfus wie immer, blickt sie heute mit klaren Augen in die Welt, aus
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