Die Siechenmagd
denen der Wahnsinn gänzlich verschwunden ist, mustert ihre Mitgefangene zwar noch etwas erstaunt, so, als würde sie Mäu erst jetzt richtig wahrnehmen, bleibt dabei aber ganz gelassen und beginnt bald, sich mit ihr ganz vernünftig zu unterhalten. Sie stellt sich Mäu als Annchen Löwenstein vor, die jüngste Tochter eines wohlhabenden Frankfurter Tuchhändlers. Ganz sachlich fragt sie die immer noch verblüffte Mäu, wie lange ihre Obsessionen diesmal gedauert und ob sie sich dabei sehr schlimm aufgeführt habe. Als Mäu ihr etwas ausweichend antwortet, dass sich ihre Ausfälle über viele Wochen hingezogen hätten und ihr schließlich die fast schon verheilte Bisswunde am Arm zeigt, bittet Annchen Mäu aufrichtig um Entschuldigung und wirkt auf einmal sehr bedrückt. Eine Zeit lang sitzen sich die beiden etwa gleichaltrigen jungen Frauen schweigend gegenüber, empfinden aber trotz der belastenden Umstände so etwas wie Sympathie für einander, und nach einer Weile hebt die Tuchhändlerstochter an, Mäu mit leiser Stimme, so, als hätten die dicken Kerkermauern Ohren, Bruchstücke aus ihrem jämmerlichen Leben zu erzählen:
Annchens Kindheit war ganz normal verlaufen, sie war zwar schon immer ein eher in sich gekehrtes, zu Grübeleien neigendes Kind, dennoch aber auch sehr aufgeweckt, und in der Lateinschule des Weißfrauenstiftes gehörte sie stets zu den besten Schülerinnen-Schön anzusehen, wie sie nun einmal war und überdies aus gutem Hause, begannen sich bald die Sprösslinge der führenden Frankfurter Familien in ihrem Elternhaus am Heumarkt einzufinden, um bei ihrem Vater, Anton Löwenstein, in aller Form um die Hand seiner hübschen Tochter anzuhalten. Nach reiflichem Abwägen fand sich auch schließlich ein geeigneter Kandidat, der einer befreundeten Kürschnerfamilie entstammende Martin Sahl. Annchen war über die Entscheidung ihres Vaters hocherfreut, verband sie doch mit ihrem zukünftigen Bräutigam schon seit Kindertagen eine gegenseitige Schwärmerei füreinander. So hätte sich eigentlich alles trefflich entwickeln müssen, die Hochzeitsvorbereitungen liefen bereits auf Hochtouren, und alle waren guter Dinge, als eines Tages, wie aus heiterem Himmel, plötzlich Annchens Heimsuchungen einsetzten. Sie hörte Stimmen, die ihr schlimme, zum Teil auch beschämende Dinge einflüsterten, verkehrte mit Unholden, die sie solange auf ganz bestialische Art plagten, bis sie dabei immer mehr außer sich geriet und schließlich mit dem Dämon eins wurde. In ihrer Verzweiflung hatte sie damals zum ersten Mal versucht, sich selbst zu entleiben, indem sie versuchte, sich auf dem Dachboden aufzuknüpfen, – was ihr leider nicht gelungen war, wie sie Mäu gegenüber mit offenem Bedauern zugibt. Ihre besorgte Familie bemühte sich daraufhin äußerst diskret um Abhilfe und fand diese in der Person des glaubensstarken Dominikanerpaters Albertus aus Köln, der als einer der anerkanntesten Exorzisten im ganzen Lande galt * . Zunächst bemühte sich der Pater, Annchen, die er für eine eher harmlose Melancholikerin hielt, durch salbungsvolle, tröstende Predigten von ihrer „Fantasey“ abzubringen, jedoch ohne Erfolg, denn die Kranke begann inzwischen immer mehr, in regelrechte Tobsuchtsanfälle auszubrechen, und kaum einer vermochte die sonst eher Sanftmütige wiederzuerkennen, geschweige denn, normalen Umgang mit ihr zu pflegen. Der junge Bräutigam war der Erste, der betrübt die Segel strich und sich von Annchen abwandte. Die Familie Löwenstein aber, nachdem sie schweren Herzens akzeptiert hatte, dass Annchen nun wohl ganz und gar zu den Kranken von Sinnen gehörte, ließ sie umgehend entmündigen sowie aus der gesetzlichen Erbfolge streichen und behandelte sie so, wie man Toren eben zu behandeln hat: Verwahrte sie in einem separat liegenden, abschließbaren Kämmerchen, betraute altbewährte Domestiken mit ihrer Pflege und Versorgung und gab sich so gut wie gar nicht mehr mit ihr ab. Bei freundlichem Wetter wurde sie in das von der Obrigkeit verordnete Narrenkleid gesteckt und eine alte Magd führte sie ein wenig in der Stadt herum.
Zwischen den einzelnen Schüben, in denen die Heimsuchungen aufzutreten pflegten, war Annchen stets bei klarem Verstand und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihre Besessenheit endlich ein Ende hätte. Sie hatte dem Dämon den Kampf angesagt und unterließ nichts, unterstützt von ihrer Familie, um wieder zu ihrer früheren Intaktheit zurückzufinden. Unternahm in
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