Die Siechenmagd
erhellen einen langen Tisch, an dem Meister Hans auf einem hohen Schemel sitzt, vor sich einen Mörser aus Steingut, in welchem er eine Substanz mit einem dicken Stößel bearbeitet. Auf den Regalen an der Wand stehen verschiedene Tiegel und Gläser, in denen zum Teil menschliche Innereien und Knochenteile in klarer Flüssigkeit schwimmend aufbewahrt werden. Auf Genehmigung des Rates ist es dem Züchtiger nämlich erlaubt, die Körper anatomisch interessanter Hingerichteter zu öffnen, um zu nehmen, was ihm davon als Arznei dienlich erscheint. Denn seit alten Zeiten gilt der Henker nicht nur als Mann des Todes, sondern auch als Heiler, dem man magische Kräfte zuschreibt. Im Galgenviertel und auch in Frankfurt werden seine Dienste als Wundarzt und Heiler häufig in Anspruch genommen. Er verfügt über sehr gute Anatomiekenntnisse und ein solides Kräuterwissen.
Höflich grüßt Edu seinen Vorgesetzten und bleibt beklommen an der Tür stehen. „Ach, der Hundshäuter will bestimmt seinen Armen-Seelen-Gulden abholen. Setz dich hin und schenk uns bitte, bitte noch ein kleines Weilchen, wie es im Lied so schön heißt * “, erwidert der Henker mit spöttischer Miene, ohne dabei von seiner Tätigkeit aufzusehen. Gehorsam lässt sich der Abdecker auf einem Schemel in der Ecke nieder und schaut dem Scharfrichter bei der Arbeit zu.
Meister Hans, der Henker, auch genannt der „Angstmann“, ist groß und hager, dabei aber nicht schlaksig. Sein magerer Körper mit den schlanken Gliedmaßen wirkt sehnig und kraftvoll. Die schneeweißen Haare sind schulterlang, ein altes Henkersprivileg, denn das Tragen von langem Haupthaar ist ansonsten nur Männern des Adels gestattet. Durch die hohe Stirn und die ausgeprägten Wangenknochen erhält das schmale, fleischlose Gesicht eine asketische Note. Ohne weiteres könnte man ihn für einen Gelehrten oder einen Mönch halten.
Die Augen des Henkers sind hell und farblos, wodurch die schwarzen Pupillen eine stechende Eindringlichkeit gewinnen. Meister Hans ist Albino, was in Henkerssippen keine Seltenheit ist. Durch vielfache Verwandtenheirat treten immer wieder solche Veränderungen auf, ähnlich wie bei alten Adelsgeschlechtern. Genauso lang ist auch der Henkersstammbaum, der nahezu acht Generationen zurückreicht. Und Meister Hans umgibt auch tatsächlich ein Nimbus von Aristokratie. Nicht umsonst hat man ihm im Galgenviertel den Spitznamen „Fürst vom Rabenstein“ gegeben.
„Wenn du das nächste Mal kommst, Hundshäuter, vergiss nicht, mir Rindertalg mitzubringen. Das hier ist schon der letzte Rest“, sagt der Angstmann und deutet auf den Inhalt eines Tiegels, der sich auf dem Tisch befindet. Er greift nach einer Phiole, träufelt sorgfältig einige Tropfen auf die Paste und walkt alles mit dem Stößel noch einmal gut durch.
„So, das kann jetzt erst mal stehen bleiben. Also gut, dann holen wir dir jetzt deinen Gulden, Schundmummel, damit du nicht noch am Hungertuch nagen musst“, fügt der Henker zynisch hinzu und deckt sorgsam ein Holzbrett auf das Steingutgefäß.
Die beiden Männer verlassen das ehemalige Verlies, erklimmen die Wendeltreppe und betreten die Stube.
Ilse ist inzwischen frisiert, angekleidet und trägt eine gestärkte Haube über ihrem hübschen, weichen Vollmondgesicht.
„Ich hab was gebacken, Hannes, komm probier doch mal“, wendet sie sich an ihren Ehemann, den Abdecker dabei vollkommen ignorierend.
„Ach, lass mich doch in Ruhe mit deinem ewigen Fressen! Bring lieber den Weinkrug herbei“, blafft der Henker zurück und setzt sich an den Tisch, ohne Edu einen Platz anzubieten. Ilse ist aufgesprungen und kehrt mit dem Weinkrug zurück. Sie füllt den Becher ihres Mannes, und als sie auch dem Abdecker einschenken will, hält der Henker sie am Arm zurück und entgegnet unfreundlich:
„Halt, der Wein ist nur für mich! Einer, der seine Tochter an die Feldsiechen verschachert wie ein Stück Vieh, kriegt hier nichts!“
Betreten steht Edu in der Stube herum und weiß nicht so recht, was er darauf erwidern soll. Eigentlich schämt er sich in Grund und Boden und würde am liebsten gleich gehen.
„Da hast du aber Recht!“, mischt sich Ilse nun auch noch ein. „Der war ja schon immer ziemlich garstig zu dem armen Ding, das weiß hier jeder. Aber dass er jetzt sein Kind auch noch an die Aussätzigen verkauft hat, ist wirklich das Letzte. – Du solltest dich was schämen, du Rabenvater!“, giftet die Henkersfrau Edu an. „Komm Hannes, zahl ihn
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