Die Siechenmagd
Dann holt sie Neuhaus’ Schlüsselbund vom Wandregal, auch die Halskette mit dem Schlüssel für seine Schmucktruhe, die er vor dem Baden abgelegt hat, und nimmt sie an sich. Zum Schluss verlöscht sie noch alle Kerzen, packt die Überreste ebenfalls in den Korb und tritt auf den Hof hinaus.
Der Schnee knirscht leise unter ihren Füßen, als sie in höchster Anspannung zum Wohntrakt der Männer schleicht. Behutsam schließt sie die Tür auf und betritt die Wohnstube von Ulrich Neuhaus. Es ist dunkel, aber sie scheut davor zurück, eine Kerze anzuzünden. Sie stellt den Korb auf den Boden und nähert sich der Kleidertruhe. Dort liegt ausgebreitet die weiße Leprösentracht mit den Handschuhen und dem Hut. Mäu vergewissert sich, ob auch alles vollständig ist. Einem plötzlichen Impuls folgend, ergreift sie den Korb und tastet im Dunkeln nach dem Schatullenschlüssel. Ihre Hände sind feucht vor Aufregung und zittern stark, als sie versucht, die Schmucktruhe aufzuschließen. Jetzt werd ich auch noch zum Dieb! Aber darauf kommt’s auch nicht mehr an, und außerdem brauch ich was für unterwegs. Hastig, als fürchte sie sich vor der eigenen Courage, fasst Mäu in die Schatulle und nimmt eine Hand voll Schmuckstücke heraus, die sie unter ihr Mieder steckt. Sogleich verschließt sie die Kassette wieder, legt den Schlüssel zurück in den Korb, läuft ans Fenster und blickt zum Himmel: Es ist deutlich nach Mitternacht. Noch ein paar Stunden und sie wird sich auf den Weg machen. Dann geht sie zu der Kleidertruhe und zieht die weiße Siechentracht über ihre Kleidung. Hose und Handschuhe sind zu groß, doch der weite weiße Umhang überdeckt alles. Der breitkrempige Hut hängt ihr so tief ins Gesicht, dass sie kaum aus den Augen schauen kann. Gut so, dann erkennt mich wenigstens niemand!
Zusammengekauert sitzt sie in Neuhaus’ Lehnstuhl in der Zimmerecke und lauscht, umgeben von Dunkelheit, den Geräuschen der Nacht. Sie hofft inständig, dass man Neuhaus nicht vorzeitig findet und geht in Gedanken immer wieder den mit Katharina gemeinsam erarbeiteten Fluchtplan durch, der sich durch ihre schreckliche Tat so dramatisch verändert hat. Sie wollte ihn doch lediglich mit Theriak betäuben, um am Morgen an seiner Stelle in der weißen Siechengewandung den Gutleuthof zu verlassen! Es war doch nur ein listiger Plan, der ihr zur lange ersehnten Freiheit verhelfen sollte. Doch nun ist sie zur Mörderin geworden, die flüchten muss, um ihrer Ergreifung zu entgehen. Im Bewusstsein der allgegenwärtigen Gefahr verfällt sie, wie die Erdkröte im Angesicht des Feindes, in eine Art Todesstarre. Im Innern aber bleibt sie hellwach, betet zur heiligen Jungfrau um Schutz und Vergebung und wartet auf den Morgen. Als sie von draußen die ersten Geräusche vernimmt, erhebt sie sich und versucht sich zu sammeln. Hoffentlich geht niemand ins Badehaus! Schnell raus, bevor es dem Schellenknecht noch einfällt, hierher zu kommen, denkt sie besorgt und begibt sich zögernd auf den Hof. Als sie am Frauentrakt vorbeiläuft, muss sie an Katharina denken. Im Geiste verabschiedet sie sich von der einzigen Verbündeten, die sie auf dem Gutleuthof hatte, und fühlt sich plötzlich so schwach und niedergeschlagen, dass ihre Beine sie kaum noch tragen wollen. Halt jetzt durch!, ermahnt sich Mäu und versucht, sich innerlich wieder aufzurichten, wie in Trance geht sie weiter.
Vor dem großen Hauptportal steht schon eine kleine Schar weißgewandeter Kranker. Sie zieht sich tief den Hut ins Gesicht und stellt sich etwas abseits von ihnen. Zum Glück ist es noch dunkel. Sie lauscht den Unterhaltungen der Gruppe und sendet Stoßgebete zum Himmel, dass bloß niemand das Wort an sie richten möge. Als die Kapellenglocke endlich die sechste Stunde anschlägt, durchfährt es sie wie ein Blitzschlag. Pünktlich erscheint Gottfried am Portal und entriegelt mit seinem großen Schlüssel das Schloss. Sogleich öffnet er weit die Pforte und die wartenden Siechen in ihren weißen Gewändern drängen eilig hinaus.
Mäu schließt sich ihnen an und gelangt unerkannt nach draußen.
II. Teil:
Flucht ins Vergessen
13. Tränenbrot
Während die Aussätzigen über die Felder in Richtung Frankfurt ziehen, hält sich Mäu die ganze Zeit abseits am Ende des Zuges. In höchster Anspannung ist sie darauf bedacht, ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, was nur dadurch gewährleistet wird, dass sie jeglichen Kontakt mit den anderen Kranken
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