Die Siedler von Catan.
die um den Hals des Tieres lagen. Der Bulle konnte den Kopf nicht mehr bewegen.
Als Inga den Tempel betrat, wurde es still. Sie trug ein Gewand, wie keiner von ihnen es je gesehen hatte: einen weiten Umhang von einer schockierenden, blutroten Farbe mit einer Kapuze, die ihr Gesicht so vollkommen beschattete, dass man es nicht mehr sah. Gewand und
Kapuze waren mit magischen Zeichen, mit Runen und Fünfsternen, bestickt. Der Umhang reichte ihr bis zu den Knöcheln der bloßen Füße und war vorn geschlossen, der Ausschnitt jedoch großzügig, sodass Candamir nicht der einzige Mann war, der sich fragte, ob sie etwas darunter trug.
Sie blieb mit gesenktem Haupt vor dem Bullen stehen, und das Tier schien etwas von ihrer Ruhe wahrzunehmen, stand mit einem Mal stockstill. Die Furcht war aus seinen Augen verschwunden.
Mit einem kleinen, blitzschnellen Ruck zog Inga einen Dolch aus dem Ärmel und schnitt dem Bullen in einer gekonnten, fließenden Bewegung die Kehle durch. Ein erregtes Raunen erhob sich.
Fast sofort brach das stämmige Tier in die Knie, und Osmund und Thorbjörn mussten ihre ganze Kraft aufbieten, um es im Lot zu halten und so zu verhindern, dass es zu früh kippte.
Inga bückte sich und hob die große, goldene Schale auf, die Hacon gemacht hatte. Es war ein überaus kostbares Gefäß, der Rand mit Perlen, Türkisen und anderen wertvollen Steinen besetzt, die man in Catan finden konnte. Leise begann die Priesterin zu Odin zu singen, während sie das rote, sprudelnde Blut auffing. Die monotone Melodie war dieselbe, die Brigitta immer gesummt hatte, doch Ingas Stimme war kraftvoller, verlieh den Worten mehr Gewicht.
Als die Schale fast bis zum Rand gefüllt war, wandte Inga sich den Versammelten zu.
Osmund und Thorbjörn ließen die Seile los, schienen auf einen Schlag jegliches Interesse an dem Bullen zu verlieren und setzten sich in die vorderste Reihe zwischen ihren Nachbarn auf die Erde.
Vier Sklaven traten lautlos zum Opferstein, um das tote Tier fertig auszubluten, zu häuten, auszunehmen und sein Fleisch zuzubereiten. Niemand schenkte ihnen die geringste Beachtung. Unter den Sklaven galt es als hohe Auszeichnung, für diese Aufgabe ausgewählt zu werden, aber sie war nicht ungefährlich. Wer zu viel Lärm machte oder den Ablauf der Zeremonie in anderer Weise behinderte, hatte von seinem Herrn keine Gnade zu erhoffen.
Alle Blicke ruhten auf Inga, die die Schale mit ausgestreckten Armen hochhielt und ihren Gesang fortsetzte. Beiläufig bewunderte Candamir ihre Kraft, denn die Schale war schon ohne Inhalt schwer.
Schließlich stellte Inga das Gefäß auf das dafür vorgesehene Dreibein, hob die Hände und warf die Kapuze zurück. Hier und da schnappte jemand nach Luft. Inga trug das herrliche, blonde Haar offen, nur ein Stirnreif aus kunstvoll ziseliertem Kupfer hielt es zurück.
»Du meine Güte, Hacon«, murmelte Candamir. »Du hast dich wieder mal selbst übertroffen.«
Doch nicht das Schmuckstück war es, das den Leuten den Atem verschlug, sondern Ingas Gesicht. Stirn und Wangen waren mit kleinen roten Runen bemalt. Diese Zeichnung verfremdete ihre Züge so vollkommen, dass es allen schien, als sähen sie sie zum ersten Mal. Inga wirkte erhaben und furchteinflößend.
Sie tauchte eine kleine Reisigrute in die Blutschale und berührte damit die Stirn der zentralen Götterfigur vor dem Opferstein. »Heil dir, Vater der Götter, der du alle Dinge ersonnen und erschaffen und uns die Krönung deiner Schöpfung geschenkt hast!«
»Heil dir, Odin«, murmelten die Versammelten.
Blut rann von der Stirn des Gottes in sein Auge, über die
Wange und tropfte schließlich von seinem Kinn.
Inga wandte sich der Figur zu, die Odin rechts flankierte.
»Heil dir, Trutzstarker, der du die Götter und ihre Heimstatt vor allen Feinden beschützest!«
»Heil dir, Thor.«
»Heil dir, Spender des Lebens, der du Erde, Mensch und Tier mit Fruchtbarkeit segnest!«
»Heil dir, Freyr …«
Einen nach dem anderen grüßte und pries sie die Götter und benetzte sie mit Blut, genau wie Brigitta es vor ihr getan hatte.
Ganz allmählich und behutsam hatte die alte Frau die Menschen zu den halb vergessenen Riten ihrer Ahnen zurückgeführt und sie gelehrt, dass die Menschen mit dem Blut der Opfertiere die Kraft der Götter zu stärken vermochten. Zu Anfang hatte die Zeremonie viele erschreckt, doch inzwischen hatten sie sich daran gewöhnt. Niemand zuckte mehr zurück, als Inga ihre Rute wieder in die Schale tauchte
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