Die Siedler von Catan.
Schwingen hob an, und ein Vogelschwarm stieg auf, so riesig, dass es den Menschen am Strand vorkam, als verdunkele sich der Himmel. Für ein paar Herzschläge fanden sie sich in eine Woge aus Bewegung und Flügelschlägen eingehüllt. Ein paar Kinder schrien angstvoll auf, warfen sich zu Boden und legten schützend die Arme um die Köpfe. Dann landeten die Vögel, als folgten sie einem äußeren Befehl, dicht an dicht, sodass sie beinah eine geschlossene Fläche bildeten. Der Sand war hell, doch diese Vögel ließen ihn geradezu schmutzig gelb erscheinen, denn ihr Gefieder war so weiß wie Schnee.
Die Elasunder starrten sie reglos an, wie gebannt. Raben, sagte Candamirs Verstand. Es sind weiße Raben. Der ganze Strand war voll weißer Raben, er sah es mit eigenen Augen: Beinah in exakter Kreisform hatten sie sich um ihre schwarzen Artgenossen geschart und beäugten sie schweigend, scheinbar ebenso starr vor Schreck wie die Menschen. Doch Candamir konnte nicht so recht glauben, was er sah, denn es war unmöglich. Ihm wurde ein wenig schwindelig von diesem Widerstreit zwischen Augen und Verstand.
»Tanuris Vögel«, murmelte Asta irgendwo hinter seiner Schulter, und ihre Stimme klang seltsam tief und fremd.
»Winterraben«, rief der alte Eilhard beinah im selben Moment. »Winterraben … Oh, Vater der Götter …«
Hier und da wurde der Ruf aufgenommen: Winterraben. Als habe jemand einen Stein in ein stilles Gewässer geworfen, ebbte das Raunen von innen nach außen, wurde in kleinen Wellen weitergetragen.
Einige weniger Beherzte – Männer wie Frauen – warfen sich zu Boden und bedeckten die Augen. Sie alle, die sie in dieser Bucht gelandet waren, hatten furchtbare Wochen und Monate hinter sich, geprägt vom ewigen Hunger und dem Kampf gegen die übermächtige See. Sie waren ausgelaugt und am Ende ihrer Kräfte, nicht bereit für ein so gewaltiges Omen. Manche weinten vor Angst.
»Fürchtet euch nicht«, sagte die alte Brigitta ruhig. Auch ihre Stimme war kaum zu erkennen. Sie klang weicher, kräftiger, vor allem jünger als gewöhnlich. Sie legte Inga, die weinend neben ihr kniete, die Hand auf den gesenkten Kopf.
»Fürchtet euch nicht.«
»Brigitta, was hat das zu bedeuten?«, fragte Harald. Selbst er schien beunruhigt und verwirrt.
»Es bedeutet, wir sind nicht in Olafs Land gelandet, sondern in Odins.«
Das Raunen verstummte ebenso abrupt wie das leise Schluchzen hier und da.
»Das … das ist unmöglich«, brachte Olaf schließlich hervor.
Sie warf ihm einen geradezu ehrfurchtgebietenden Blick zu. »Du beleidigst die Götter, Olaf.«
»Aber … aber das Land, von dem du sprichst, ist entrückt! Kein sterblicher Mensch kann es betreten.«
»Und dennoch sind wir hier.« Ein Leuchten lag in Brigittas Augen, das niemand je zuvor gesehen hatte. Es verlieh ihrem zerfurchten Gesicht einen Glanz, etwas Altersloses, das beinah schön war. Langsam streckte sie dem Schwarm weißer Raben die Linke entgegen, den Arm lang ausgestreckt. Ihre Hand bebte nicht einmal. Einer der großen Vögel flatterte auf – ebenso ungeschickt wie seine schwarzen Brüder -, ließ sich auf ihrem Handgelenk nieder und streckte die Brust ihrem liebkosenden, gekrümmten Finger entgegen.
Brigitta breitete die Arme aus und legte für einen Moment den Kopf in den Nacken. Es sah aus, als strecke sie Arme und Gesicht dem Himmel entgegen, doch als ein zweiter weißer Vogel auf ihrem rechten Handgelenk landete, wandte sie das Gesicht wieder den Menschen am Strand zu. »Fürchtet euch nicht«, wiederholte sie. »Dazu besteht kein Grund. Entrückt mag diese Insel einmal gewesen sein, aber aus Gründen, die zu begreifen wir niemals hoffen können, hat Odin uns dennoch hierher geführt.«
»Wohin geführt?«, fragte Candamir. Er starrte sie unverwandt an, und es kam ihm beinah so vor, als sehe er sie heute zum ersten Mal. Sie war immer noch eine alte Frau mit eisgrauem Haar und einem Gesicht, das zerfurcht war wie verwitterter Granit. Aber plötzlich erkannte er, was mancher Elasunder schon immer behauptet hatte: Brigitta war den Göttern näher als irgendein anderer von ihnen.
»Auf Tanuris Insel«, antwortete sie. »Wir sind in Catan.«
Wandelmond, Jahr 1
N ach fünfundzwanzig Tagen voller Gefahren und Entbehrungen landeten wir am 15. April an der Nordwestküste eines offenbar fruchtbaren Landes, welches die Heiden Catan nennen. Nie zuvor habe ich sie von solcher Ehrfurcht ergriffen gesehen wie in dem Augenblick, da die Hexe ihnen
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