Die Signatur des Mörders - Roman
verwirrte, übersensible Autor war, für den alle ihn halten, sondern ein psychopathischer, von Aggressionen geschüttelter Mann, unfähig zu lieben, erfüllt von unterschwelligem Hass. Im Grunde ein exzentrischer Spinner, so heißt es in einem von Hus’ Aufsätzen, dessen Texte scheinbar keinen Sinn ergeben.« Er zog ein schmales Heft aus der Jackentasche und zitierte: »›In Kafkas Welt fühlt sich der Leser verloren in einer surrealen Albtraumwelt, die ihm seine eigene absurde Nichtigkeit widerspiegelt. Niemand könnte diese grausame Erkenntnis in einer Erzählung wie In der Strafkolonie so kühl und minutiös beschreiben, wenn er diese Kälte nicht in sich spürte.‹«
Myriam wollte widersprechen, doch Henri winkte ab. »Ich habe in Kafkas Geschichten geblättert, Auszüge aus seinen Tagebüchern gelesen … und ehrlich, dahinter sehe ich schon eine krankhafte Fantasie.«
»Was hat Hus damit zu tun?«
»Für jedes seiner Seminare gibt der Professor Semester für Semester dieselbe Lektüreliste heraus. Aber auf dieser Liste stehen nur die Bücher, die auch Kafka besaß, die er gelesen hatte. Genau diese Bibliothek versuchte Hus mit den entsprechenden Originalausgaben zu rekonstruieren. Diese hat er zum größten Teil über das Antiquariat von Filip Cerny in Prag bezogen. Dasselbe Antiquariat, dem jetzt per E-Mail die Manuskripte angeboten wurden.«
»Seit wann bist du Spezialist für Literatur? Du liest doch allenfalls deine Angelzeitschrift Fisch & Fang.«
»Kein normaler Mensch denkt sich so etwas aus.« Henri beugte sich nach vorne, sah Myriam in die Augen »Nicht einmal ein geisteskranker Serienmörder. Tut mir leid, das sind die Taten eines Intellektuellen, der sich intensiv mit Kafka auseinandergesetzt hat.«
»Bist du jetzt mit deinen Anklagepunkten fertig?«, fragte Myriam, und als Henri keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Du hast wirklich ganze Arbeit geleistet. Doch nichts davon zählt wirklich als Beweis vor Gericht.«
Für kurze Zeit breitete sich Schweigen im Raum aus.
»Hus hat die Magisterarbeit eines Studenten nicht anerkannt, weil dieser in seiner Arbeit Sekundärliteratur zitierte, die nicht auf der heiligen Liste stand. Der Student ist deshalb durchgefallen.«
»Wie heißt der Student?«, fragte Myriam schließlich. »Und warum hat er Hus nicht verklagt?«
»Warum?« Henri beugte sich nach vorne, kam ihr so nahe wie seit Wochen nicht mehr. Myriam spürte ein Kribbeln.
Seine Hände, die über ihren Körper strichen.
Der falsche Zeitpunkt. Der falsche Ort.
»Ich will dir sagen, warum. Weil Sebastian Wolff danach einen Selbstmordversuch unternommen hat, woraufhin er für mehrere Monate in der Psychiatrie gelandet war.«
»Sebastian Wolff? Ist das der Name des Studenten?«
»Ja. Außerdem hatte Milan Hus eine sexuelle Beziehung zu Justin Brandenburg.«
»Das weiß ich.«
Ron hob die Hand. »Aber nicht, dass er so gut wie jeden seiner Studenten anbaggert. Ohne Unterschied, ob männlich oder weiblich. Er geht ihnen an die Wäsche, verstehst du? Studenten, die sich entgegenkommend zeigen, erhalten Gerüchten zufolge bessere Zensuren.«
»Das ist allgemein bekannt«, fügte Henri hinzu.
Myriam schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. »Der Täter könnte auch einer seiner Studenten sein. Dieser Sebastian zum Beispiel. Du hast gesagt, er war in der Psychiatrie. Oder Olivier? Auf ihn treffen alle Punkte genauso zu wie auf Hus. Er hatte Zugang zu Hus’ Computer. Er beschäftigt sich mit Kafka. Er war vielleicht eifersüchtig auf Helena oder Justin.«
Ron warf Henri einen Blick zu, der Myriam augenblicklich alarmierte.
»Was?«, fragte sie.
»Er ist vorbestraft«, sagte Henri zögernd.
»Wer?«
»Paul Olivier.«
»Vorbestraft? Weshalb?«
»Schwere Körperverletzung.«
»Warum steht dazu nichts in den Akten?«
»Weil diese Entwicklung neu ist. Auch für uns.«
»Warum also Milan Hus und nicht Paul Olivier?«
»Weil die Beweise gegen Milan Hus sprechen, wie oft muss ich dir das noch erklären?«
»Wenn Hus in Untersuchungshaft bleibt, dann können wir nur in diese Richtung ermitteln. Was also, wenn ihr euch irrt? Hättet ihr ihn nicht einfach nur überwachen lassen können?«
Nein, Myriam konnte nicht nachgeben. Sie wollte Henri widersprechen. Ihn kränken. An seinem Ego kratzen. Seine Überlegenheit zum Kippen bringen.
»Du weißt nichts«, erwiderte Henri und erhob sich ebenfalls. »Das ist erst seit gut einer Stunde dein Fall, aber du bringst
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