Die Signatur des Mörders - Roman
bestätigte Myriams Vermutung, dass Henris Ultimatum inzwischen Tagesgespräch war.
»Lass uns in mein Büro gehen«, bat sie.
Henri folgte ihr. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, erklärte er überzeugt: »Du weißt doch, manche Menschen sind die geborenen Schauspieler. Sie lügen, täuschen uns, spielen uns etwas vor. Niemand würde glauben, sie könnten einen Menschen umbringen. Hus ist so jemand. Etwas stimmt nicht mit ihm, glaub mir. Hast du vergessen, dass seine Frau in Prag Selbstmord begangen hat? Und wusstest du, dass er nicht einmal zu ihrer Beerdigung gefahren ist? Und warum schweigt er?«
»Nur weil er schweigt, lügt er noch lange nicht.«
»Vergiss nicht, wir haben Beweise: Die E-Mails, den Schlüssel zu Helena Baarovas Wohnung, und er hat kein überzeugendes Alibi.«
»Aber das ist zu offensichtlich!«, rief Myriam.
»Kommt er deswegen nicht als Täter in Frage?«
»Genau.«
»Was soll das, Myriam?« Henri lachte ironisch. »Dann brauchen wir die Spurensicherung nicht mehr kommen zu lassen. Außerdem wurde er, wie du weißt, an dem Abend, als Helena Baarova umgebracht wurde, in der Nähe des Tatortes gesehen.«
»Wer hat ihn gesehen?«
»Alex.«
»Alex?«, wiederholte Myriam. »Der hat einen Mann mit Hut und schwarzem Anzug gesehen! Er ist ein Junkie. Er halluziniert.«
Henri schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, Hus ist ein Verführer. Er schart ausgewählte Studenten um sich wie ein Sektenführer. Die Lektüreliste enthält nur Bücher aus Kafkas Bibliothek, Bücher, die Kafka selbst besessen hat. Alles andere ist untersagt. Die Seminare finden am Abend statt. Oft bei ihm zuhause. Da liest er dann Kafka vor. In einem... hör genau zu... schwarzen Anzug und diesem seltsamen Hut. Klickt da etwas in deinem Kopf? Pan Tau! Allein die Themen seiner Geheimseminare: Foltermethoden in Kafkas Werk - Der Autor als Richter - Das Dunkle in Kafkas Erzählungen - Das Böse lauert in der Fantasie - Fantastische Verbrechen - Criminal Mind - Das radikal Böse. Kannst du den Zusammenhang nicht sehen?«
»Nein, kann ich nicht«, rief Myriam. »Das sind doch alles Spekulationen, und das ausgerechnet von dir! Hus springt lediglich auf einen Zug auf. Mörder, Serienmörder haben in der Fantasie der Menschen Hochkonjunktur. Das nutzt Hus für seine Karriere. Das mag populistisch sein oder nicht, deshalb wird er noch lange nicht selbst zum Täter.«
Henri schwieg einige Minuten, bevor er antwortete: »Hus saß bereits einmal im Gefängnis.«
»Ja, ich habe die Akte gelesen. Es ist Jahre her und hatte politische Gründe in einem verbrecherischen System. Das spricht für ihn.«
Die Tür öffnete sich, und Ron betrat das Büro. Offenbar hatte er Myriams letzte Worte gehört, denn er fragte: »Was findest du eigentlich an ihm?«
»Willst du damit andeuten, ich lasse mich von Gefühlen leiten?«
»Man sieht es niemandem an, ob er ein Mörder ist. Du weißt, was die Kriminalpsychologen sagen.Verbrecher sind ganz normale Menschen, wie du und ich.«
»Ach, hör mit diesem Schwachsinn auf«, zischte Myriam, »ich kann es nicht mehr hören. Wenn jeder von uns im Tiefsten seines Inneren zum Mörder werden kann, läge Hillmer schon lange unter der Erde. Eigenhändig von mir erwürgt, erschossen, erstochen, erschlagen. Und glaubt mir, ich weiß genau, wie man Spuren verwischt.«
»Siehst du …«, bemerkte Ron spöttisch.
»Aber ich tue es nicht. Das ist der kleine Unterschied. Wir tun es nicht.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl, wollte auf und ab gehen, doch ihr Büro war zu klein. Sie nahm erneut Platz.
»Warum vertraust du Hus? Weil er dir die Tür aufhält? Dir schmeichelt?« Rons Sarkasmus brachte Myriam erst recht in Rage und forderte sie geradezu zum Widerspruch heraus. »Warum sollte Milan Hus so dumm sein und sich als Täter auf dem Silbertablett anbieten? Nein, dazu ist er doch viel zu intelligent.«
»Vielleicht will er in die Geschichte eingehen. Den Nobelpreis kriegen …«, spekulierte Ron.
»Es gibt keinen Nobelpreis für Mord«, fauchte Myriam.
»Oder er versucht den ultimativen Beweis zu erbringen«, bemerkte Henri ruhig.
»Welchen Beweis?«
»Für seine weltbewegende Theorie, dass Kafka nicht der verklemmte, verwirrte, übersensible Autor war, für den alle ihn halten, sondern ein psychopathischer …«
»Psychopathisch …«, unterbrach Myriam ihn. »Psychopathisch ist doch heute jeder.«
Doch Henri ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Dass Kafka nicht der verklemmte,
Weitere Kostenlose Bücher